30.11. Corinne Dobler: Ist Selbstmord ok?

IMG_4974_2Ich schreibe diesen Blog zwar als Pfarrerin, mehr aber aufgrund der Erfahrung, die ich gemacht habe, als ich kürzlich eine Frau in den Freitod begleitete. Meine Sichtweise ist also eine nur meine ganz persönliche, die sich aufgrund dieser einzelnen Erfahrung verändert hat. 

Bisher hielt ich einen begleiteten Selbstmord in ausserordentlichen Fällen für „ok“: Wenn das Leiden grösser ist als der Lebenswille…welche andere Lösung kann es da noch geben? Doch nach der Begleitung dieser Frau bin ich mir da nicht mehr so sicher.  

Ich lernte sie in den letzten Wochen ihres Lebens kennen und bekam einen Einblick in ihr von körperlichen und psychischen Krankheiten geprägtes Dasein. Es gab nur noch Aussicht auf Verschlechterung, und darum verstand ich sie, als sie mir sagte: „Ich kann und will so nicht weiterleben. Ich will nicht als Pflegefall enden und wer weiss wie sterben müssen!“ Ich spürte aber bei meinen Besuchen, dass neben den unheilbaren Krankheiten noch mehr war, das sie quälte: Ihre Einsamkeit, ihr Gefühl nicht verstanden zu werden, misslungene Beziehungen zu ihren Mitmenschen und das Gefühl, keinen Nutzen mehr für diese Welt zu haben. Für sie war ihr Leben ein Leben in einer Sackgasse. Und der selbstgewählte Tod erschien ihr als Ausweg.  

Ich vermute, dass es letztlich ein Schamgefühl war, das ihren Todeswunsch nährte: Die Scham für ihre Bedürftigkeit, ihre Beziehungslosigkeit, ihr Angewiesensein auf andere. Sie konnte und wollte sich in dem Zustand, in dem sie sich befand, ihrer Umwelt nicht mehr zumuten.  

Falls meine Vermutung wirklich stimmt, kann ich dem Selbstmord als tolerierte Option in unserer Gesellschaft nicht mehr so einfach zustimmen. Bringt sich da nicht plötzlich jemand um, weil er selbst für untragbar, für unzumutbar hält? Scheidet er aus dem Leben, weil er sich schämt, sich seinen Mitmenschen so zu zeigen, wie er ist: Unselbständig, hilfsbedürftig und abhängig? Hat Hilfsbedürftigkeit in unserer Gesellschaft, welche die Autonomie des Einzelnen zum höchsten Gut erhoben hat, keine Berechtigung mehr? 

Ich verstehe den Menschen nicht als ein autonomes, freies Individuum, sondern als  gemeinschaftliches Wesen, eingebettet in ein Beziehungsnetz, angewiesen und abhängig von anderen Menschen. Von Geburt an bis in den Tod. Wenn ein Mensch also den Wunsch hat zu sterben, hat er wahrscheinlich seinen Blick für sein Beziehungsnetz, das ihn prägt und trägt verloren. Oder umgekehrt: Seine Mitmenschen haben den Blick auf das Tragende und Verbindende verloren und ihn aufgeben. 

Und was sagt Gott zum Selbstmord?  

Ich weiss es auch nicht. Mit einem strafenden und autoritären Gottesbild habe ich persönlich eher Mühe. Warum sollte Gott den Menschen erschaffen, um ihn dann zu bestrafen, wenn er seiner Meinung nach versagt? Ich stelle mir das eher so vor, dass derjenige, der uns das Leben schenkt, es ausserordentlich bedauert, wenn wir mit dem Leben nicht zurechtkommen und ihm von selbst ein Ende setzen. Und ich glaube, dass wir in diesen extremen Lebenssituationen sein „Bei-uns–sein“ erfahren können. Wer dennoch bewusst aus dem Leben scheidet, den erwartet das, was uns wahrscheinlich alle erwarten wird: Der Rückblick auf das was war. Das Hinsehen auf unser vergangenes Leben, das vielleicht schmerzhafte aber auch heilsame Auflösen und Aufdecken von allem, was wir im Leben erreicht haben und auf das, was wir nicht verwirklicht haben.   

Ich wünsche mir für unsere Zukunft, dass Menschen sich für ihre Lebenslage nicht schämen müssen. Und nicht aus dem Gefühl heraus „in einer Sackgasse zu sein“ aus dem Leben scheiden. Sondern dass sie ein Beziehungsnetz finden, das nicht über sie urteilt, sondern da ist, auch in schwierigen Lebenszeiten.

Danke liebe Corinne Dobler für Ihren Beitrag, der Mut macht, heute am letzten Tag im November.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in 1. November-Blog-Aktion: Geheime Fragen, Sterben und verschlagwortet mit , von Petra Schuseil. Permanentlink.

Über Petra Schuseil

Als "alte" Frankfurterin pendel ich seit Anfang 2012 zwischen Frankfurt und dem Zürichsee hin und her. 64 bin ich jetzt und offiziell Rentnerin. Ich schreibe regelmäßig Morgenseiten, singe im Kirchenchor, und schwimme im Sommer täglich im Zürichsee. 2013 kam mein Buch "Finde Dein Lebenstempo" auf den Markt. "Wesentlich werden" so heißt ein anderer Blog von mir. Seit Ende 2014 gibt es unseren Totenhemd-Blog. Inzwischen sind wir ein Team: Juliane, Sigrid und Lutz schreiben mit. Wenn nicht jetzt, wann dann ist mein Lebensmotto.

3 Gedanken zu „30.11. Corinne Dobler: Ist Selbstmord ok?

  1. Hallo Corinne,
    hab vielen Dank für deine offenen Worte. Du hast sehr viel von dem auf den Punkt gebracht, was mich auch umtreibt: dass das Angewiesensein auf andere inzwischen für viele so problematisch ist, dass sie lieber früher aus dem Leben scheiden möchten. Ich habe das sogar von einer mir nahen Person so gesagt bekommen – ich war fassungslos. Ich glaube, es wird Zeit für eine Kultur der Menschlichkeit, in der unsere Erfolglosigkeit, gar das Scheitern und das Abhängig sein einen Wert hat. Vielleicht liegt der Schrecken des Sterbens genau in diesem Punkt. Das will ich weiter verfolgen.
    Ich habe noch keine Pfarrerin getroffen (ich treffe ja doch überdurchschnittlich viele von der Sorte), die gesagt hätte, dass sie jemand in den Freitod begleitet hat. Das ist entweder eine sehr schweizerische Seelsorge-Frage oder bei uns total tabuisiert.
    Danke für deine Offenheit in diesem Punkt!
    Viele Grüße
    Annegret

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  2. Freitod.
    So viele Gedanken habe ich mir schon darüber gemacht. So viele Menschen verloren.
    Diese nagenden Fragen im Gehirn: hätte ich das nicht merken müssen? Hätte ich denn nichts tun können? Wie groß muss die Einsamkeit und Verzweiflung gewesen sein um diesen Schritt zu gehen?
    Ja- der, der geht war so Mut- und Hoffnungslos und ich bin noch da und habe mit meinem engen Geist nicht gesehen.
    Die wenigsten reden über die Gründe die sie dazu bringen und wer zurück bleibt leidet. In den Freitod begleiten- das kann ich nicht nachvollziehen.
    Ich habe dann Fassungslosigkeit und Trauer und diese endlose Unverständnis der Familien vor mir sitzen und finde keine Worte um zu trösten.

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  3. Den letzten Abschnitt möchte ich ganz fest mit unterschreiben. Ich wünsche, dass jeder Mensch immer jemanden findet, der ihn hält. Wenn aber das Leben eine Quälerei wird, dann wünschte ich, es gäbe viele Gespräche und schlussendlich die richtige Entscheidung.

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