In einem der Bücher, die ich hier im Blog schon vorstellte, habe ich gelesen: Es ist unsere wichtigste Lebensaufgabe, sich vom Leben verabschieden zu müssen.
Sich vom Leben zu verabschieden ist – egal in welchem Alter – schwer. Man hinterlässt vor allem seine Liebsten, seine Freunde, Dinge, die einem wichtig waren. Die Liebe am Leben.
Ich möchte mal kurz weg schwenken vom Sterben und vom Tod und ganz allgemein zu einem unserer Grundbedürfnisse kommen: etwas beenden. Die Maslowsche Bedürfnispyramide kennen wir alle. Die elementaren körperlichen Grundbedürfnisse kennen wir auch: essen, trinken, schlafen, Sex haben. Hier noch einmal zur Erinnerung bei Wikipedia nachzuschauen.
Irgendwann dann in meiner Coachingausbildung lernte ich, dass es zu unseren sozialen Bedürfnissen gehört Dinge oder Beziehungen zu beenden. Oder etwas zu Ende zu bringen. Warum? Weil wir Dinge beginnen. Wir lernen eine Sprache oder starten einen neuen Job. Wir sind neugierig und engagiert oder auch inspiriert und machen eine neue Erfahrung. Andersrum merken wir aber auch, wenn wir etwas beenden müssen. Die Sprache ist gelernt. Der Job macht keinen Spaß mehr. Die Liebe ist vorbei. Manchmal sind es äußere Umstände, die uns deutlich machen, „dies ist nun zu Ende“. Es ist wichtig, dass wir uns klar machen, dass dies zu unseren Grundbedürfnissen gehört. Es ist wichtig für uns „Schluss zu machen“. Das gibt uns Freiheit, macht uns autonom, zählt zu unserer Persönlichkeit. Es bedeutet, dass wir eine Wahl haben. Wir können uns für oder gegen etwas entscheiden. Wir können Schluss machen. Da denken wir doch gleich an Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ oder?
Nun gibt es Menschen, die zieren sich einen Schlussstrich zu ziehen, egal um was es geht. Andere können das besser. Sie suchen das Gespräch oder kündigen einen Vertrag. Sie sind klar, positionieren sich, wirken ggfs. Respekt einflößend. Sagen NEIN. Diejenigen, die eine Situation aushalten egal ob im Beruf oder in der Liebe und sich nicht trauen, eine Situation zu beenden wirken vielleicht entscheidungsunfreudig. Eiern herum und wirken vielleicht passiv.
Und nun komme ich wieder auf das Sterben und Tod und meine Überlegungen. Ich unterstelle den Menschen, die sich eher gut trennen können von einer Sache oder einem Menschen, dass diese sich irgendwann auch besser von ihrem Leben verabschieden können. Sie setzen sich schon während des Lebens damit auseinander.
Diejenigen, die sich da schwerer tun, stecken ihren Kopf eher in den Sand wenn es um Überlegungen zum Lebensende geht. Da wirkt das „ungelebte Leben“ stärker als bei den Menschen, die entscheidungsfreudiger sind, Nein sagen können und sich abgrenzen zu bestimmten Dingen oder Situationen. Sie setzen sich durch, sie tun was ihrer Meinung nach für sie richtig ist. Andere Menschen fühlen sich eher „ausgeliefert“ und hadern. Hadern mit dem Leben genauso wie mit dem Tod.
Sich trennen, Schluss machen oder einen Schlussstrich unter eine Sache ziehen ist für jeden keine einfache Sache. Ich glaube aber es ist eine Typfrage, wem es besser oder schlechter gelingt. Wenn man etwas beendet, dann ist man immer traurig, es ist ein Prozess, der länger oder kürzer dauert. Man durchläuft verschiedene Phasen. Siehe auch die vier Phasen während des Trauerns von Verena Kast in ihrem Buch „Trauern“.
Ich habe einige Fragen notiert, um unsere Überlegungen hier im Artikel mit den vorherigen Gedanken aus meinen Artikeln zu verknüpfen und weiter zu vertiefen. Ich bin immer noch am Buch von Jan Kalbitzer: Das Geschenk der Sterblichkeit. Und der Hypothese des ungelebten Lebens.
Exkurs: Was will ich endlich beenden? Und wann?
Es gibt Situationen und Menschen von denen wir uns verabschieden wollen oder sollten, weil sie uns nicht gut tun. Beziehungen und Freundschaften verändern sich mit den Jahren … aber auch Arbeitszeiten, Wohnsituationen oder Berufslandschaften sind einem ständigen Wandel unterworfen.
Da ist ein Abschied fällig. Der kann uns erleichtern, der kann uns aber auch traurig machen.
Sich dem Lebensende stellen und sich von ihm zu verabschieden ist unsere zentralste und schwierigste Lebensaufgabe und sie eint uns. Jede und jeder von uns hat diese Aufgabe zu leisten. Die einen früher. Die anderen später. Mal mit vollem Bewusstsein, mal fehlen uns alle Kräfte um es bewusst zu erleben.
Was können wir also tun um uns zu wappnen? Können wir das überhaupt? Uns wappnen? Vielleicht passt „vorbereiten“ besser. Ich will mal überlegen ob es eine Checkliste geben könnte dafür.
Gedanken und Gefühle, die auftauchen können, wenn man eine Sache beenden will. Im weitesten Sinne auch an den Abschied vom Leben gedacht.
- Welches Gefühl kommt hoch wenn ich an das „Ende“ denke?
Unlust, Demotivation, Frustration, „Nase voll haben“ - Wovor habe ich Angst? Vor den Konsequenzen, vor dem Verlust.
- Warum werden das Ende/Beenden hinausgezögert?
Man mag sich nicht schlecht fühlen, man fühlt sich verpflichtet, man will sich und andere schonen/schützen - Wer ist von der Entscheidung/dem Ende betroffen?
der/die PartnerIn, Freunde oder Bekannte, ein Chef oder Kollegen usw. - Wer muss informiert werden? Was muss geregelt werden?
Kündigung / Testament / Verfügungen - Wie reagiert mein Gegenüber? Vermeide ich die Auseinandersetzung?
- Was habe ich bisher „investiert“? Was hinterlasse ich?
- Welche inneren Stimmen sprechen mit mir? Wie kann ich ihnen eine Stimme geben?
- Fühle ich mich erleichtert? Zerrissen? Bedrückt?
- Bin ich grundsätzlich traurig, wenn ich gehe, etwas beende? Oder froh und erleichtert?
- Gibt es ein Danach? Eine nächste Stufe? Einen Trost?
Ich glaube, diese schwierige Aufgabe, die da auf uns zukommt „uns vom Leben verabschieden zu müssen eines Tages“ und mit der wir uns heute schon beschäftigen und auseinandersetzen können, erweckt viele verschiedene Gedanken und Gefühle. Mir fällt als erstes auch ein, dass wir in der heutigen Zeit keine Zeit haben „um sich mit dem Sterben und dem Tod“ auseinanderzusetzen. Habe ich gerade kürzlich von jemandem gehört. Da ging es zwar um etwas anderes aber dass sehr viele Menschen im Hamsterrad rennen wissen wir.
Und wir vermeiden Traurigkeit. Wir wollen uns nicht schlecht fühlen. Traurig sein ist doof. Ich sage nicht, dass ich es toll finde, dass ich mich von meinem Leben verabschieden muss irgendwann. Ich finde es ziemlich bescheiden. Ich bin noch einmal bei der Aussage von Jan Kalbitzer im Interview zu seinem Buch: Das Geschenk der Sterblichkeit.
Ich fände es wunderbar, wenn diejenigen, die ohne einen offensichtlichen Grund (Anmerkung von mir: weil andere nur noch ein Jahr zu leben haben) Angst vor dem Sterben haben, diese auf eine ähnliche Art und Weise nutzen: nämlich sich klar werden, wie sie eigentlich leben wollen. (siehe meinen Blogartikel vom 17. Mai.)
Also. Das ungelebte Leben wirkt auch dadurch, meiner Meinung nach, dass ein Großteil unserer Gesellschaft sich schwer tut mit dem „guten“ Beenden von Dingen, Beziehungen oder dem Leben. Gelebtes Leben heißt, wie schon im Gesprächssplitter aus dem Death Café gelernt im Hier und Jetzt uns tagtäglich auf unser Lebensende vorzubereiten und uns gleichzeitig mit dem Abschied von diesem Leben auseinanderzusetzen.
Heute schon.
Jetzt.