Jahresringe und Spiegelungen

IMG_2132.JPGDer letzte Tag im Juli neigt sich dem Abend entgegen. Der 1. August steht vor der Tür. Zum 95. Mal wird sich dieser besondere Monatswechsel in seinem Leben ereignen. Der Nationalfeiertag steht vor der Tür. Wie jedes Jahr würde er im Lieblings-Bio-Bauernhof seine Freunde zum Brunch treffen. Er hatte einen Tisch für 15 Leute reserviert und um einen Tisch unter den Bäumen im Schatten gebeten. Wie er diese lauschige Stimmung liebte. Das Draußen-sein mit Jung und Alt.

Er freut sich jetzt schon auf die Alphornbläser und den Naturjodel seines Großenkels. 25 Jahre der Kerl. Wie schnell er groß geworden ist! Er ist so stolz auf ihn. Die Tradition bewahren und mit anderen jodeln. Das hatte er selbst von seinem Vater übernommen. Über die Generationen hinweg war es ihnen immer wichtig gewesen, die heimischen Rituale zu ehren und zu leben.

Er sitzt in einem Zürcher Café und sinniert über sein Leben. Draußen sitzend freut er sich, das gewaltige Gebäude der Oper im großen Schaufenster gespiegelt zu sehen. Die Ferien die alles ruhiger werden lassen, denkt er weiter. Er mag den Sommer in der Stadt. Die Menschen sind geduldiger und schlendern müßig. In der Hitze des Tages suchen sie den Schatten auf dem großen Platz vor der Oper. So schön und bunt anzusehen wie sich die Menschen hier versammeln. Alle sitzen sie zusammen. Die einen mit einem chinesischen Lunch vor sich. Die anderen mit ihrem „Coffee to go“.

„Mein Leben setzt sich zusammen wie die Jahresringe eines alten Baumes“ sinniert er. Er hatte begonnen sein Leben aufzuschreiben. Mit dem Laptop auf dem Schoß denkt er zufrieden an sein hochbetagtes Leben. Alle 7 Jahre heißt es, verändert sich ein Leben. Für seines stimmt das sicher. Kindheit. Jugend. Frühe Familienplanung. 3 Hochzeiten. 3 Scheidungen. Seine erfolgreiche Selbständigkeit. Mit 80 hat er die Geschäfte an seine Nachkommen übergeben. 5 Kinder hat er groß gezogen. 13 Enkel und 5 Großenkel wurden ihm geschenkt. Auf seinen Ältesten freute er sich besonders. Morgen würden sie sich wiedersehen.

Man möchte fast wegfliegen. So leicht und luftig fühlt sich im Moment alles an. Er sieht sich selbst gespiegelt mit der Oper im Hintergrund. Die Jahresringe von Sterbenden zusammenfügen, dachte er plötzlich und erschrak ein wenig. Sterbend bin ich ja noch nicht, aber bald wird es soweit sein. Erst kürzlich las er, dass man sich auf diesen letzten Lebensabschnitt freuen darf. Das Sterben und den Tod willkommen heißen und vergnüglich gestalten. „Lust aufs eigene Sterben haben“, stand da. Wenn nicht jetzt wann dann beginnt die Vorbereitung auf diesen letzten Lebensprozess?

Die Jahresringe seines Lebens zusammenfügen und verknüpfen. Einen roten Faden daraus erwirken. Seinen Freunden würde er morgen vortragen, dass er bereit sei und dass er sich freue auf alles was da noch kommt. Schon immer hatte er nach den Perlen getaucht in seinem Leben. Das Schöne gesucht und gefunden. Der Tod wird ihn nicht erschrecken. Er lacht ihm entgegen. Schmunzelnd und dankbar klimpert er in die Tasten.

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Diese Geschichte und das Foto entstanden beim Café und Lunch im Lieblingslokal in Zürich. Inspiriert war ich durch ein Schreibprojekt zum Thema „Jahresringe“.

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