Kein Jahr wurd vergessen

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Zum Thema „Jahresringe zusammenbringen“ hat meine Schweizer Schreibfreundin Maria einen sehr schönen berührenden Text geschrieben, den ich hier veröffentlichen darf. Ich bin davon überzeugt, dass dir die Geschichte gefallen wird. Mir gefällt sie sehr. Es wird ein Ritual beschrieben, das ich sehr schön finde.

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Es ist der letzte Freitag im Monat: Erinnerungszeit. Seit dem ersten Todestag meiner Frau widme ich diesen Tag ihren Schätzen. Gehe durch ihre Sammelboxen, Ablegekästen, Kisten oder Schubladen.

Am liebsten sind mir die Scrapbooks. Ich nehme das oberste heraus, blättere und erinnere mich, blättere und lächle, blättere und sinniere. Alles hat sie gesammelt auf unsern Reisen, alles hat sie eingeklebt. Ich verharre bei einem Foto einer riesigen Baumstammscheibe. Daneben hat Anita geschrieben: Der Baum: Ringe erzählen seine Geschichte, umhüllen und schützen den zarten Anfang, kein Jahr wird vergessen. Lang hocke ich da, umringt von Karten und Quittungen, Tickets und Fotos, unserer Geschichte und ihren Erinnerungen. „Kein Jahr wird vergessen“.

Könnte ich unsere Reisen wiederholen? Die 43 Reisen, die wir miteinander gemacht haben, jedes Jahr eine. Könnte ich unsern eigenen Baum gestalten, anfangen mit unserer Hochzeitsreise als Zentrum, als Kern?

Ich drehe am Ehering, den ich immer noch trage. 

Hunde und Katzen tragen ein Halsband, Menschen Ringe. Tauben auch. Auf den Taubenringen stehen Nummern: Identitäts- und Telefonnummer. Auf dem Ehering eine Liebeserklärung, ein Name; eigentlich auch eine Art Besitzurkunde. 

Bäume aber wachsen in ihre Ringe hinein. Diese Ringe sagen nichts aus über  Besitz, aber über die Identität. Jedes Jahr ein neuer Ring. Das Alter verborgen unter der Rinde. 

Und ich blättere rückwärts. Lasse unsere Reisen noch einmal passieren, von der letzten Reise hin zur Hochzeitsreise. Sehe unser Zusammensein als Baum, bohre von aussen nach innen. 

Plötzlich kommen sie nicht mehr aus dem Scrapbook, sie kommen aus meinem Herzen, die Bilder, die Erinnerungen: Ihr Lachen, als das Riesenrad in Wien stillstand, wir ganz oben waren und ich mich vor lauter Höhenangst auf den Boden setzte zwischen den Bänken; der Käse, den uns der Bauer in Sardinien geschenkt hatte; die Wanderung in England, als wir vom Unwetter überrascht und bis auf die Unterhosen nass wurden; der Raser auf unserer Autostopp Reise durch Frankreich. Anita hatte Blut geschwitzt vor Angst und ich wohl auch….

Und dann stehe ich vor der weissen Tapete im Schlafzimmer, hole Filzstifte, die Leiter… ich fühle mich plötzlich wieder jung, bewege mich wie in Trance, zeichne einen riesig grossen Kreis an die Wand, oben berührt er die Decke, unten den Boden, fange an mit unserer letzten Reise nach Norddeutschland, arbeite rückwärts, schreibe, zeichne, grabe in meinem Gedächtnis, hin und wieder brauche ich Anita’s Hilfe, dann schlage ich nach, ein Ring für jedes Jahr, manchmal wird ein Ring breit, manchmal schmal. Wechsle die Farben.

Es ist Nacht, eigentlich schon fast wieder Morgen, als ich beim zarten Anfang angekommen bin.  

Ich lege die Stifte weg, strecke meinen Rücken durch, setze mich im Schneidersitz aufs Bett, ganz oben auf die Kissen. Schaue, staune und lache: Ringe erzählen unsere Geschichte, umhüllen und schützen den zarten Anfang, kein Jahr wurd vergessen.  

5 Gedanken zu „Kein Jahr wurd vergessen

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