Seit jeher war er ein Treffpunkt für Agenten und Spione, ein Ort für Verschwörer und Menschen, die die Weltherrschaft anstreben: Der alte jüdische Friedhof in Prag, tarý židovský hřbitov v Praze-Josefově. Das ist natürlich barer Unsinn, aber ein Stoff, aus dem sich wunderbar Geschichten spinnen und großartige Romane schmieden lassen, wie zum Beispiel Der Friedhof von Prag von Umberto Eco. Der Friedhof inmitten des einstigen jüdischen Viertels in der Prager Altstadt gibt das einfach her. Und wer, der sich heute dort durch die Besuchermengen zwängt, hat nicht schon mal der Mystik und Magie dieser versunkenen Welt gehört und wähnt nicht hinter jeder Mauerecke den Golem? Kleine tönerne Figuren bietet schließlich jeder Souvenirshop an.
Die Wahrheit sieht zumindest heutzutage ganz anders aus. Vor allem die des Friedhofs. Agenten? Spione? Weltverschwörer?
Nichts davon.
Touristen hingegen zu Hunderten, wenn nicht Tausenden.
Spreche ich von heutzutage, liegt das auch schon wieder zehn Jahre zurück, dass meine Frau und ich die Stadt an der Moldau besuchten. Bei diesem Besuch haben wir natürlich auch den alten jüdischen Friedhof in Prag besichtigt. Auf einer Fläche von etwa einem Hektar versammeln sich 12.000 Grabsteine, vermutlich liegen dort die Gebeine von über 100.000 Toten. Ein ganz besonderer Ort, ein Muss bei jeder Stadtbesichtigung, wie das alte jüdische Viertel insgesamt, die Karlsbrücke, der Hradschin und überhaupt… die goldene Stadt.
Alles Erwähnenswerte steht in einschlägigen Reiseführern und muss hier nicht aus der Erinnerung wiederholt und mit angelesenem Wiki-Wissen garniert werden. Bitte lesen Sie das dort nach, wenn Sie das interessiert.
Bilder von diesem Friedhof aber möchte ich heute zeigen. Im September 2011 war der Zugang zu dem Friedhof nur durch die alte Pinkas-Synagoge möglich. Als absolutes Highlight und Hotspot zieht er natürlich jede Menge Touristen an. Und die wiederum benehmen sich, wie viele Touristen das tun, vor allem wenn sie in Gruppen auftreten, zu laut, zu aufdringlich, zu distanzlos. Es mangelt manchem an Respekt, an Verständnis oder an Einfühlsamkeit für solche Orte.
Hinzu kommt die eher fragwürdige Garderobenwahl für Friedhöfe (wie auch für Kirchen, Synagogen und Moscheen).
Wer nun glaubt, sich auf dem Friedhof frei nach eigenem Befinden bewegen und überall schauen zu können, der irrt. Es gibt einen vorgegebenen, abgekordelten Weg, den man im Gänsemarsch entlang tippeln darf. Zumindest war es 2011 so, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders sein wird, wenn der Friedhof wieder geöffnet hat).
Das nimmt dem Ort viel von seiner Magie, seinem Charme, seiner Spiritualität, rettet ihn aber gleichzeitig vor den zügellosen Menschen, die sonst überall herumklettern würden auf der Suche nach dem ultimativen Selfie-Fotomotiv. Sonst wäre der Friedhof wohl heillos verloren.
Es ist (bzw. war) eine immense Herausforderung, solche Orte so zu fotografieren, als sei man mutterseelenallein dort. Wer mich kennt, der weiß, dass ich auf meinen Fotos aber genau das versuche. Menschen tun solchen Bildern meist nicht gut.
Die verwinkelte Wegführung allerdings hat zur Folge, dass sich im Bildhintergrund fast immer irgendwelche Leute befinden. Schwierig, das zu vermeiden, aber es geht. Es stört zwar die anderen, die sich wie auf einer Ameisenstraße hinter mir stauen, wenn ich die Kamera vors Auge nehme und durch den Sucher schaue. Einige zwängen sich vorbei, andere tun es einem gleich.
Der Versuch allerdings, ohne „Beifang“ den Grabstein des berühmten Rabbis Judah Löw fotografieren zu wollen, war aussichtslos.
Aber ich darf nicht ungerecht sein und will das auch nicht. Alle haben das gleiche Recht, sich alles anzuschauen, dort herumzulaufen, stehen zu bleiben, zu fotografieren, von mir aus auch Selfies zu machen.
Wer wäre ich, ihnen das abzusprechen?
Ich versuche, aus einigen Bildern die Menschen hinterher digital herauszuretuschieren. Dann nämlich bleibt nur das Spiel von Licht und Schatten, die Grabsteine zwischen den hohen Bäumen, kreuz und quer durcheinander, einige umgestürzt, andere aneinander gelehnt, viele vermost, verwittert, einige wie mit einem Scheinwerfer angestrahlt und herausgehoben aus der Menge dort, wo die Sonne das Blätterdach durchdringt. Alles in der gleichen Farbwelt ohne grellbunte Shirts im Bildhintergrund.
Meine Impressionen:
Auf eine kleine Besonderheit möchte ich hinweisen: Das Schin ש, einen Buchstaben aus dem hebräischen Alphabet.
Als Symbol steht es für El Shaddai (was ungefähr „Gott, der Allmächtige“) bedeutet. Die segnenden Priesterhände, die mit einer ganz besonderen Geste diesen Buchstaben symbolisieren, finden sich häufig auf alten jüdischen Grabsteinen.
Falls Sie jetzt überlegen, ob Sie diese Geste vielleicht schon mal gesehen haben könnten, darf ich Ihnen das verraten. Es ist auch mit nur einer Hand ausgeführt der vulkanische Gruß in der Star Trek Welt. Diese Geste geht zurück auf den jüdischen Darsteller Leonard Nimoy, der sie in die Serie eingeführt hat. Dazu die berühmte Grußformel:
Live long and prosper.
Wenn die Formel auch kein priesterlicher ist, so ist es trotzdem eine Art Segen.
Live long and prosper.
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Lieber Lutz, es macht sehr viel Spaß deine Texte zu lesen … sie sind kurzweilig und sehr informativ. Ich lerne jedes mal etwas dazu. Schön, dass du jetzt hier im Blog mitschreibst. I am so happy and proud of you. Merci Merci Merci.
Herzlich. Petra
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Wunderschöne Bilder, die mich berühren danke vielmals
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Das freut den kleinen Fotografen in mir enorm. Es ist schön, wenn Fotos etwas bei den Betrachterinnen und Betrachtern auslösen.
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