Wie gehen, wenn man gehen muss

der Reim zu versinken wäre ertrinken gewesen.
Aus: Günter Grass „Ein weites Feld“

„Das Thema ist ernst, ungewöhnlich ernst für mein Blog. Und es könnte schnell fehlgedeutet werden.“
So leitete ich im am 24. November 2019, dem Totensonntag, einen Blogtext ein. „Aber die Frage, wie man sterben möchte, wenn man sterben muss (was wir alle müssen), ist sicher jeder Leserin und jedem Leser bekannt. Und auch der Wunsch, sich das aussuchen zu können, was sich in den allermeisten Fällen aber so nicht realisieren lässt.“

Wie gehen, wenn man gehen muss - einfach losschwimmen?Auslöser für den damaligen Beitrag und im selbigen auch erwähnt war eine vorangegangene, digitale Diskussion mit der Berliner Bloggerin Stephanie Jaeckel, die ihrerseits über die ungarische Philosophin Agnes Heller einen Beitrag veröffentlicht hatte. Stephanie Jaeckel schrieb im Sommer 2019 einen Beitrag über den Tod der 90jährigen ungarischen Philosophin Agnes Heller, die Augenzeugenberichten einfach hinaus in den Plattensee geschwommen und nicht mehr zurückgekehrt ist. So zumindest berichtete im Juli 2019 die Neue Zürcher Zeitung.
„An den Horizont schwimmen, bis man nicht mehr kann. Alle Achtung! Ahoi, Lady!“ endete Stephanie Jaeckels bemerkenswerter Text. Von der Autorin weiß ich, so wie sie von mir, dass sie meine Liebe zum Wasser teilt.  Also kommentierte ich damals unter ihrem Beitrag:

„Bei den vielen Kilometern, die ich im Freiwasser schwimme, denke ich oft genau darüber nach. Wie es wohl wäre, wenn es an der Zeit ist, einfach die Schwimmbewegungen einzustellen, einfach zu sinken. Ins Nichts.
Ohne Angst, ohne Panik… weil ich selbst das so entschieden habe.
Ich kann bei dem Gedanken nichts Schreckliches, Bedrohliches finden.“

Und das meinte ich ernst. Nicht nur, dass ich ihn nicht bedrohlich finde, ich finde ihn sogar in gewisser Hinsicht verlockend, verführerisch und reizvoll. Einfach gehen, dann schwimmen, dann nichts mehr tun.
Natürlich ist das ein frommer Wunsch, der noch dazu überfrachtet ist mit romantisierenden Vorstellungen, in denen mutmaßlich auch Goethes Ballade „Der Fischer“ und dessen Schlussvers halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn eine Rolle spielt. Das Bild, einfach so in scheinbar fast gänzlich aufgehobener Schwere langsam im Blau, Grün, Schwarz zu versinken, hat für mich wenig Beunruhigendes. Bilder, wie man sie auch aus Filmen wie The Big Blue kennt.

Stephanie Jaeckel antwortete auf meinen Kommentar mit einer gehörigen Portion Ernüchterung: „Geht mir auch so. Aber ich wurde belehrt, dass Ertrinken eine stressige Art des Sterbens ist. Weil der Körper wohl noch eine Weile im Kampfmodus bleibt. Trotzdem, für mich ist Wasser ja auch „mein“ Element. Ich denke, es ist auf jeden Fall eine Option.“ 
Wie gehen, wenn man gehen muss -Weiher am AbendIllustriert hatte ich den Beitrag mit Fotos, die ich im Sommer in Erding am Kronthaler Weiher gemacht habe, einem meiner Stammreviere, wenn ich im Freiwasser schwimme – und übrigens auch ein Ort, in dem schon mehrere Menschen ertrunken sind. Darauf möchte ich an anderer Stelle zu sprechen kommen.
Den vollständigen Text „Wie gehen, wenn man gehen muss“ lesen Sie hier in meinem eigenen Blog. An dieser Stelle seien der Zitate genug.
Oder nein. Dieses noch:

Wie gehen, wenn man gehen muss - Abschied für immer

Ich bin nicht sicher, ob sich diese Urinstinkte, überleben zu wollen, so einfach durch Wille und Verstand ausschalten lassen, wenn es notwendig wäre und man tatsächlich einfach zu sinken beginnen möchte. Ins Nichts. Ohne Angst, ohne Panik. Andererseits: Wie viele sind ins Wasser gegangen, um genau das zu tun: Versinken und ertrinken?

Wenn es so funktioniert, wäre das nicht schön?

Nicht mehr gehalten werden,

nicht mehr festgehalten werden,

nicht mehr aufgehalten werden…

Nichts hat mehr Gewicht, nichts mehr Bedeutung.
Verschmelzen mit dem eigenen Element, dem Wasser, eins werden, keins werden.

Vollkommen darin untergehen, vollkommen darin aufgehen.

Wie gehen, wenn man gehen muss - vom Hell ins Dunkel oder anders herum?

Voller Enthusiasmus über diese Gedankenflut postete ich den Link am anderen Tag in den sozialen Medien, allen voran bei Facebook auf meinem Profil, aber auch in diversen Gruppen, unter anderem in einer, in der es ums Schwimmen geht. Da hätte ich besser nicht getan bzw. auch getrost lassen können. Denn keine Stunde später war der FB Post samt Link zu dem Beitrag verschwunden.
Von den Administratoren gelöscht. Auch eine Art Cancel Culture? So weit würde ich jetzt nicht gehen.

 

Meine Nachfrage, wieso das geschehen sei, ergab, dieser Beitrag sei bestens geeignet, Menschen mit labilem Charakter zum Selbstmord zu bewegen oder zumindest denen, die sich mit den Gedanken trügen, einen letzten Impuls zu geben. Das habe man verhindern wollen.
Ich persönlich fand diese vorauseilende Vorsichtsmaßnahme angesichts der Reichweite, die mein Blog hat und auch angesichts der Leute, die bei FB auf den Link klicken würden, ziemlich überzogen. Nicht die Spur eines Aufrufs oder nur die Weitergabe einer Inspiration, sich das Leben zu nehmen, sind in dem Text enthalten – nur meine persönlichen Gedanken Wie gehen, wenn man gehen muss. Also den absolut unrealistischen Wunsch auszudrücken, selbst wählen zu können, wie man stirbt und zu sagen, wie ich es dann vielleicht am liebsten hätte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.  
Ich bin nicht Goethe und der Blogpost nicht Die Leiden des jungen Werther.
Darf der nun auch nicht mehr gelesen werden aus vorausseilender Sorge, er könne wie damals nach dem Erscheinen einen Menschen zur Selbsttötung animieren? Oder Hesses Unterm Rad“ das wir sogar als Schullektüre hatten. Manchmal muss man sich nur noch wundern und den Kopf schütteln.

 

Ein Gedanke zu „Wie gehen, wenn man gehen muss

  1. Pingback: Reinhard Mey: Wie ein Baum, den man fällt | Totenhemd-Blog

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