Der Exit Tag

Eine Kollegin kam vor ein paar Wochen ins Büro und erzählte von einem Gespräch mit einer ihrer Freundinnen. Der Inhalt dieses Gespräches: Die Stiefmutter dieser Freundin hatte ihre Stieftochter vor kurzem informiert, dass sie nun den Termin für ihren Exit-Tag bekommen habe. Kommende Woche Donnerstag, 14 Uhr.

So verstörend wie es die Kollegin empfand, so verstörend fand ich das auch. Mehr noch. Ich fand das, je mehr ich darüber nachdachte, hammerhart. Ein schwieriges Thema, je mehr ich darüber nachdenke.
Obwohl ich natürlich längst von dem Sterbehilfetourismus in die Schweiz weiß, vielleicht, war ich noch nie mit dem Thema ernsthaft konfrontiert. Auch dieses Mal nur mittelbar und über drei Ecken, aber es rückte plötzlich dicht auf.

Die Frau war schwer krank. Sie ließ sich also in die Schweiz fahren und wusste, dass sie am Donnerstag, dem x.ten, Punkt 14 Uhr ihren Termin in einem entsprechendem Institut hatte. Den definitiv letzten Termin ihres Lebens.
Bis dahin hat sie Zeit, alles zu richten und sich von allen zu verabschieden. Und dann ist es vorbei, das Leben. Wer sich dazu entschließt, hat sicherlich sehr gute Gründe, hat sich das lange überlegt und ganz sicher alle notwendigen Vorkehrungen getroffen und „seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht“, wie es so schön heißt. Und wartet dann darauf, benachrichtigt zu werden, wann denn dieser Exit-Day stattfinden wird.

Jedes Leben läuft unweigerlich auf diesen einen Moment zu, an dem es vorbei ist. Aber möchte ich so präzise wissen, wann das ist, dass ich es mir im Kalender notieren oder einen Termin einstellen kann? Was macht das mit mir? Kann ich das aushalten zu wissen, dass es bis Donnerstag 14 Uhr geht? Und nicht bis Freitag, Samstag, Sonntag… Irgendwann?
Das ist das Wissen der eigenen Endlichkeit in seiner konsequentesten Form, oder?

Nimmt das einem die Angst vor dem Tod oder ist das Gegenteil der Fall? Vom Tod nicht mehr überrascht zu werden, kann sehr beruhigend werden, andererseits die klar definierte Frist, wie lange das Leben noch dauert auch genau sehr belastend. Weil eben nicht mehr viel bleibt.
Ein viel weitreichenderes Gedankenexperiment liebt dem Theaterstück Die Befristeten von Elias Canetti aus dem Jahr 1964 zugrunde. In dieser Fiktion weiß nämlich jeder Mensch exakt, wie lange er noch zu leben hat und trägt das bereits in seinem Namen. Demzufolge liegt es an jedem selbst, diese Zeit möglichst gut zu nutzen. Macht sie das glücklicher, befreiter?

Ich glaube, ich will das nicht wissen. Ich hätte nicht den Mut dazu. Vielleicht wäre ich auch ein furchtbar Getriebener, der, wenn er wüsste, wann alles ein Ende hat, kaum aushalten kann, was in dieser Zeit alles unbedingt noch geschehen, was noch erledigt werden muss.
Aber ich bin gottseidank auch nicht in dieser Situation, in der ich vielleicht eine solche Entscheidung ansteht. Und wenn das mal der Fall ist, vielleicht denke ich anders darüber. Vielleicht ist dann der Tod die willkommene Erlösung aus allem – und jede Stunde bis dahin eine zu viel, weil es nur noch Quälerei ist. Ich weiß es nicht.

Und offen gestanden: Ich bin sehr froh, auch das nicht vorhersehen zu können.

3 Gedanken zu „Der Exit Tag

  1. Exit-Day… mir fällt dazu die Demut gegenüber dem Leben und seiner Unwägbarkeit ein. Dem gegenüber der genau terminierte, vermeintlich kontrollierbare Tod. Irgendwie gruselt’s mich. Auch wenn es für die beschriebene schwerkranke Dame die für sie richtige Entscheidung sein mag. Danke für diesen Beitrag, der auch mich sehr nachdenklich macht.

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