Who wants to live forever?

Wein steht auf dem Tisch; und Bier.
Erinnerungen wabern durch den Raum, das Gespräch kreist um die Musik der späten 70er und frühen 80er. Es wird immer wieder unterbrochen, wenn ein neuer Song ausgewählt wird, aus der JBL Bluetooth Box dröhnt es, der Algorithmus von Youtube schlägt Unsägliches vor – und Geniales.
Angefangen hat alles mit Iggy Pops neuem Song Love Missing.

Da hätte es noch anders laufen können. Tat es aber nicht, zu sehr erinnerte mich dieser Song an Joy Division, damit an eine wilde Zeit und das brach die Dämme. Wir sprachen von Ian Curtis, der sich 1980 im Alter von nur 26 Jahren erhängte. Und von da war es kein weiter Bogen mehr sich zu erinnern, welche genialen Sängerinnen und Sänger dieser Zeit schon tot sind:

Freddie – er war der erste, der uns einfiel. Als Freddie Mercury 1991 an Aids starb, war nicht nur ich schockiert und wütend. Welch Ungerechtigkeit, welch sinnlose Vergeudung von Talent hatte diese Krankheit mittlerweile verursacht: Keith Haring, Magic Johnson, Rock Hudson. Viele sollten folgen.
In Endlosschleife hörte ich Who wants to live forever, der Song aus dem Highlander-Soundtrack erschien mir angemessener als das ewig im Radio wiederholte The Show must go on, das die Sender zu Freddies Requiem auf sich selbst stilisierten.

Ganz abgesehen davon fand ich den Film Highlander seinerzeit großartig, weil es ein höchst stylishes 80er-Jahre-Werk war, und eben der Soundtrack von Queen kam. Ganz vielleicht auch, weil mein damaliger Chef den Film Mist fand, ihn als nicht mehr als einen endlos langen Queen-Music-Clip herabwürdigte, sich selbst aber als Cineast ansah. Was aber ein anderes Thema ist.
Von Freddie war es dank des Algorithmus nur ein Click zu Under Pressure, und damit zu David Bowie, den ich noch besser fand als Freddie.

Sein Tod 2016 zerstörte eine mächtige Illusion. Nämlich die, dass so jemand wie Bowie immer da war, immer da ist und immer da sein wird. Als er seine Karriere in den 60ern begann, konnte ich gerade laufen, als ich ihn entdeckte, hatte er mehrere Höhe- und Tiefpunkte der Karriere hinter sich, großartige Platten gemacht, die ich für mich „ausgrub“ und hatte noch viel, viel vor sich. Immer wieder wechselte er sein Image, erfand sich neu, „häutete sich“ wie ein Chamäleon. Wie kann so jemand sterben?
Ich kannte keine Zeit ohne Bowie, heute ist es vielleicht ein Dutzend Musiker seines Kalibers, die immer schon da waren: Seit meiner frühesten Kindheit und heute noch Musik machen: Elton John, Cher, die Rolling Stones, Pink Floyd, Marianne Faithfull.

Von Bowie gibt es das Musikvideo Lazarus – ein absolut verstörender, schmerzhafter Clip:

Ich habe ihn noch nie zu Ende ansehen können.
Wir reden über David Bowie und Iggy Pop, schwelgen in Erinnerungen, nehmen den Faden der verstorbenen Pop- und Rocklegenden wieder auf und landen bei Andy Fletcher, Keyboarder von Depeche Mode, der vor Kurzem völlig überraschend im Alter von nur 60 Jahren starb. 

Das Bizarre: Ein kurzer Nachruf auf Fletcher auf 3Sat stand dort in direkter Nachbarschaft zu einem Bericht über Abbas neuesten Coup: Über Wochen standen die vier Schweden im Studio, haben sich mit Elektroden bekleben und abfilmen lassen. Dank gigantischer Rechnerleistungen stehen sie nun als digitale Avatare, um 40 Jahre verjüngt, wieder auf der Bühne: Eine Hologramm-Show in einer eigens dafür errichteten Halle in London.

Unsterblich, weil unecht – lebensecht animiert darf man nun einem abgespielten „Konzert“-Programm lauschen, bei dem nicht nur Musik und Stimmen aus dem Rechner kommen (das gute alte Playback) sondern die Interpreten gleich mit. 
Was heißt: Die Show kann beliebig oft abgespielt werden, kein Künstler, der mal einen schlechten Tag hat, den Einsatz versaut, das Publikum anraunzt, keine Absagen wegen Erkrankung, aber eben auch kein Künstler, der sich vom Publikum anfeuern und weitere Zugaben abringen lässt, keiner, der den Zuschauern das Gefühl gibt, heute Abend nur für sie aufzutreten und alles zu geben. Es ist jedes Mal zu 100% das Gleiche.
Schon schwadroniert die Presse davon, dass das zukunftsweisend ist. Technologisch vielleicht, aber kann es sein, dass da irgendjemand das Konzept von Live-Konzerten nicht verstanden hat?

Who wants to live forever?

Will ich ein Rockkonzert, eine Oper, was auch immer sehen, in dem die Rechnerleistung frenetisch beklatscht wird? Will ich ein Konzert sehen, in dem ein vielleicht gestorbenes Bandmitglied digital animiert auf der Bühne steht und die anderen Live?
Nein – ich will das alles nicht. Ich will mich an David Bowie erinnern, wie ich ihn im Konzert 1986 in Berlin gehört habe. Ich möchte nicht den Torso einer großen Band auf der Bühne stehen sehen mit einem Avatar mitten drin – nicht Queen, nicht Depeche Mode, nicht die Beatles mit künstlichem George Harrison und John Lennon.

Ich möchte die stimmliche und musikalische Weiterentwicklung einer Marianne Faithfull von der quietschigen 18jährigen, die mit As Tears Goes By durchstartete, als ich noch in den Windeln lag, erleben. Im Auf und Ab ihres Werdegangs entwickelte sie sich zu einer faszinierenden Sängerin, Brecht-/Weill-Interpretin und Schauspielerin, überlebte Drogensucht und Alkoholexzesse, Covid, Hepatitis, Lungenentzündung und Brustkrebs, sang Balladen und Arbeiterlieder. 

Ich liebe es, wie Marianne Faithfull mit ihrer markanten Stimme singt: 

Show me the way
To the next whiskey bar
Oh don’t ask why
Oh don’t ask why
For if we don’t find
The next whiskey bar
I tell you we must die
I tell you we must die
I tell you, I tell you
I tell you we must die

In welchem Avatar würde man so jemanden auf die Bühne stellen wollen, in welchem Alter, mit welchem Aussehen, mit welcher Stimme?
In gar keinem. Ich zumindest nicht, ich bevorzuge Originale. Und ich habe mittlerweile verstanden, dass die alle sterblich sind.

I tell you, I tell you
I tell you we must die

So nämlich! Und nicht anders.

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