Der Greif und ich, wir sehen uns immer wieder – Teil 2

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Das Leiden und die Qual hatten einen Namen: Latein. Und wenn ich ehrlich bin noch einen weiteren dazu: Altgriechisch. Dem Erlernen dieser Sprachen konnte ich nie viel abgewinnen, der Nutzen, den ich daraus gezogen habe, hält sich in Grenzen, allen Befürwortern humanistischer Bildung zum Trotz. Denn was immer ich von Platon, Flavius Josephus, Augustin oder sonstwem zu lesen hatte: Ich gebe es unumwunden zu – ich habe mich immer auch der deutschen Übersetzungen bedient.
Man kann auch Albert Camus‘ Mythos von Sisyphos zum Examensthema angeben, ohne einen Satz Französisch zu sprechen. Ich bin der Beweis: Es geht. Mögen auch alle, die unentwegt predigen, jede Übersetzung sei zugleich Interpretation sich jetzt die Haare raufen. Die Camus-Prüfung lief bestens – auf Deutsch. Denn es ging nicht um die Philologie sondern um die Philosophie. Was ein bedeutender Unterschied ist, wie man schon am Wort erkennen kann.
Und das ist dann auch das Einzige, weshalb sich die alten Sprachen doch gelohnt haben: Fremdwörter entschlüsseln, von denen man noch nie gehört hat, weil man sie einfach übersetzen kann. Und Namen, denn die Leidenschaft des Humanismus, seine Namen zu latinisieren oder graezisieren, um sich einen entsprechend hohen Bildungsanstrich zu geben, trug ganz zauberhafte Blüten. So wurden aus der Familie Fuchs die Vulpius, aus dem Schwarzbauch der Melanchthon und der schnöde Neumann nannte sich Neander und das Tal entsprechend gleich mit. Das ist irgendwie ganz schön entlarvend.

Coverillustration „Das Treffen in Telgte“ von Günter Grass

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen

Lange Rede, nur um auf den Punkt zu kommen, dass Andreas Gryphius natürlich auch nicht Gryphius hieß sondern Greif. Was sehr banal klingt – aber den Bogen schlägt zur Überschrift dieser Serie, denn uns wurde er natürlich als Gryphius präsentiert.Erst in der Schule (s. Teil 1) und dann tauchte er vollkommen unvermittelt in Telgte wieder auf.
Bei einem Treffen, das mich, als ich das erste Mal und seitdem immer wieder davon gelesen habe, vollkommen in seinen Bann gezogen hatte. Daran sind zwei Dichterkollegen des Greifs schuld. Zum Einen wäre da der bemerkenswerte Hans Jacob Christoffel zu Grimmelshausen, genannt Stoffel, und sein Werk Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, das ich auch immer lesen wollte aber es bis heute nicht geschafft habe, um die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, die zu entschlüsseln mir Golo Manns Wallenstein Biographie helfen sollte, was auch zu Ende zu lesen misslang.
Aber da gab es doch dieses schmale Büchlein das Treffen von Telgte von Günter Grass, in dem es ja eigentlich um ganz was Anderes ging. Vordergründig gaben sich die großen Barockdichter am Ende des Dreißigjährigen Krieges in diesem Buch die Klinke in die Hand, und das im Gasthaus der Wirtin Libuschka, die Grass Stoffels Simplicisus quasi entwendet hatte, eine alte Bekannte, die doch – ebenfalls im Dreißigjährigen Krieg herumziehend – auch Bert Brechts Mutter Courage als Vorlage gedient hatte. Auch ein Stück aus dem Kanon unserer Schullektüre, das mich nachhaltig beschäftigte und zwar vom ersten Tag an, als ich es begann zu lesen. Und ich gehöre vermutlich zu einer Minderheit, wenn ich erwähne, dass ich bis heute gelegentlich die Lieder, ob von Helene Weigel, Therese Giese oder Gisela May interpretiert, anhöre. Vor allem das Lied der Mutter Courage, über das ich auch in diesem Blog mal einen Beitrag schrieben könnte – zumal es von erschreckender Aktualität bis heute ist.

Zurück nach Telgte:
Inmitten der Dichter, Poeten, Verleger und Komponisten, die zum Ende des Dreißigjährigen  Krieges dort zusammenkommen, ihre Texte diskutieren und ihre Gedanken ordnen wollen für einen intellektuellen Neubeginn nach dem verheerenden Krieg, findet sich auch Andreas Gryphius. So fabulierte es Günter Grass.
Und Grass war einer meiner literarischen Götter, ist es noch. Was er schrieb, musste ich lesen. Alles (na ja: Fast alles). Da konnte Marcel Reich-Ranicki poltern, so viel er wollte.
Nun war Grass Geschichte eine Verschlüsselung der Gruppe 47, wie sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenkam, um Nämliches zu tun. Und daher haben viele der Grasschen Barockfiguren ihr Alter Ego in der Nachkriegsliteratur. Grass selbst sieht sich im Stoffel, Walser, Enzensberger, Richter, Augstein, Reich-Ranicki… sie sind alle in der Erzählung präsent. Und Heinrich Böll, einer der für mich bedeutendsten Köpfe der deutschen Nachkriegsliteratur. Er gibt den Greif. Oder andersherum: Gryphius ist die Folie, auf die Böll projiziert wurde. Böll – der Vertreter der „Trümmerliteratur“ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, Gryphius, der nicht minder die schrecklichen Folgen des Dreißigjährigen Krieges in seinen Versen zur Sprache gebracht hat, so in dem Sonett Tränen des Vaterlandes aus dem Jahr 1636 oder in der Überarbeitung zur Trauerklage des verwüsteten Deutschlands von 1637. Das liest sich im Original heute nur schwer verständlich, aber versuchen Sie es ruhig mal:

Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes. (1637)

WIr sind doch nunmehr gantz / ja mehr alß gantz vertorben.
Der frechen Völcker schar / die rasende Posaun /
Daß vom Blutt feiste Schwerd / die donnernde Carthaun /
Hat alles diß hinweg / was mancher sawr erworben /
Die alte Redligkeit vnnd Tugend ist gestorben;
Die Kirchen sind verheert / die Starcken vmbgehawn /
Die Jungfrawn sind geschänd; vnd wo wir hin nur schawn /
Ist Fewr / Pest / Mord vnd Todt / hier zwischen Schantz vñ Korbẽ
Dort zwischen Mawr vñ Stad / rint allzeit frisches Blutt
Dreymal sind schon sechs Jahr als vnser Ströme Flutt
Von so viel Leichen schwer / sich langsam fortgedrungen.
Ich schweige noch von dehm / was stärcker als der Todt /
(Du Straßburg weist es wol) der grimmen Hungersnoth /
Vnd daß der Seelen=Schatz gar vielen abgezwungen.

Der Galgenbaum. Radierung von Jacques Gallot von 1632

Es ist wohl eines der bekanntesten Barockgedichte überhaupt.
Zeit also wurde es für mich, längst von der Schule (und damit der Rolle des Vorlesers) entflohen an die Uni, mich mit dem Greif, dem Gryphius, und seiner schauerlichen Lyrik von Tod und Verderben eingehender und sehr viel tiefer zu beschäftigen. Und die Gelegenheit kam überraschend schnell…

Wird fortgesetzt

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Mal böse, mal artig, mal bösartig. Satirisch, unabhängig, kritisch, motzig, ironisch - ganz wie es die Situation erfordert. Beobachtend, lauernd, zubeißend. Der will eben nur spielen.

4 Gedanken zu „Der Greif und ich, wir sehen uns immer wieder – Teil 2

  1. Pingback: Der Greif und ich, wir sehen uns immer wieder – Teil 1 | Totenhemd-Blog

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  3. Hallo Lutz, uiiiiiii … mir fehlen die Worte bei so geballter Kraft der Worte und Perspektiven … dass du das eine oder andere Buch noch oder nicht fertig gelesen hast verstehe ich … dennoch verzauberst du uns mit deinem Wissen und der Auseinandersetzung literarischer Schätze und Zusammenhänge. Bin gespannt auf die Fortsetzung und auf Mutter Courage. Ich gebe zu, das Gedicht ist ganz schön „blutig“ und dann noch der Galgenbaum dazu: uääää.
    Du bereicherst unserem Blog mit deinem Stil. Merci.
    LG Petra

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    • Danke, liebe Petra. Es macht aber auch viel Spaß, das alles wieder hervorzukramen und in einen oder mehrere Blogbeiträge hineinzugießen. Und es ist schön, wenn es ein paar Leser*innen nicht nur erreicht sondern auch interessiert.

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