Heute oder morgen

Es ist der Tag nach ihrem achtzigsten Geburtstag. Der Sohn eines Nachbarn hat für sie mit ein paar Freunden in dem bereits verkauften und fast leeren Haus einen Flohmarkt organisiert um Werkzeuge ihres verstorbenen Mannes und Spielzeug ihrer längst erwachsenen, im Ausland lebenden Kinder zu verkaufen. Er und seine Freunde sind längst weg. Sie geht noch einmal allein durchs Haus und nimmt aus einem Schrank im Keller eine pralle Kleiderhülle heraus. Wie für vieles andere hat sich niemand dafür interessiert. Was jetzt noch im Haus ist, wird entsorgt werden. Sie legt sich den Kleidersack über den Arm, schließt die Haustür ab und geht zur Bushaltestelle, um zu ihrer neuen Wohnung zu fahren, die vielleicht ein neues Zuhause werden wird. Zwei Zimmer, Bad und Küchenzeile in einer Seniorenwohnanlage mit einem romantischen Namen, funktioneller Einrichtung, medizinisch geschultem Personal und überwiegend gleichaltrigen Mitbewohnerinnen. Alles etwas schicker als sie es bislang gewohnt gewesen ist. Gut, dass ihr der Kleidersack noch eingefallen ist.

„Ist der Bus schon weg?“, fragt sie eine junge Frau, die an der Bushaltestelle sitzt und das verneint.

Sie setzt sich ebenfalls und legt die Kleiderhülle über ihre Knie.

„Der soll aber doch um fünf vor kommen, oder?“, fragt sie weiter und die junge Frau nickt.

„Naja, wenigstens wird es mir nicht kalt werden“, ergänzt sie. „Wir haben noch ein Gläschen auf meinen Geburtstag getrunken, da ist mir warm geworden und ich habe meinen Pelzmantel dabei, meinen Nerz.“

„Der ist in der Hülle?“, will die junge Frau wissen.

„Ja, ich weiß, das macht man nicht, Pelz kaufen. Aber jetzt besprüht einen ja niemand mehr, wenn man einen Pelz trägt und ich habe gedacht, ich sterbe. Damals, als ich ihn gekauft habe.“

„Und jetzt glauben Sie nicht mehr, dass Sie sterben?“

„Na doch, aber nach der Mitteilung des Arztes damals hab’ ich geglaubt, dass ich ganz schnell stürbe. Da bin ich nach Hause und habe Anna, unsere Putzfrau gefragt, ob sie sich um meinen Mann kümmern würde, wenn ich tot bin. Sie ist schon ganz lange bei uns gewesen. Und als sie gesagt hat, dass sie das machte, habe ich mir einen Nerz gekauft. Dreitausendfünfhundert Mark hat der gekostet.“

„Wieso?“

„Ich habe immer einen Nerz haben wollen. Und ich habe mir keinen besseren Zeitpunkt vorstellen können, weil später vielleicht zu spät gewesen wäre.“

„Sterben Sie jetzt lieber? Oder fröhlicher?“

Sie schweigt, um Zeit zum Nachdenken zu haben.

„Denken Sie immer daran, dass Sie sterben, wenn Sie den Mantel tragen?“

„Ich trage ihn ja gar nicht. Nicht mehr. Als klar wurde, dass ich doch nicht sterbe, nicht so früh jedenfalls, habe ich ihn im Schrank gelassen, für gut, wie man so sagt. Mal ins Theater oder zu einer schicken Silvesterfeier. Oft hab ich ihn nicht angehabt. Dann kam ja auch die Zeit in der man beschimpft oder besprüht wurde, wenn man einen Pelz getragen hat. Das wollte ich auch nicht.“

„Wo wollen Sie ihn jetzt tragen?“

„Jetzt bringe ich ihn in meine neue Wohnung. Ich bin letzten Monat in den Rosenhof gezogen, eine Seniorenwohnanlage. Dort wohnen zwar nur alte Menschen, aber es gefällt mir ganz gut. Sehr schick sind dort alle. Dort passt er hin.“

„Warum haben Sie den Mantel erst gekauft, als Ihnen der Arzt gesagt hat, dass Sie sterben werden? So überraschend ist das doch nicht.“

„Nein, aber dass ich eventuell nicht mehr so viele Gelegenheiten dazu haben würde, wie ich bis dahin gedacht habe, das hab ich ja nicht gewusst.“

„Wer kann das schon wissen? Nicht jeder stirbt an einer diagnostizierten Krankheit. Menschen haben doch auch Unfälle, Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Manche werden einfach nicht mehr wach und niemand weiß, wann das sein wird.“

„Ja, ich hätte den Mantel schon früher kaufen sollen.“

„Dann müssten Sie auch nicht ans Sterben denken, wenn Sie ihn tragen, zumindest nicht an Ihr eigenes.“

„Vielleicht hätte ich ihn dann auch häufiger getragen. Es ist so schön.“

Sie zieht den langen Reißverschluss auf und streicht über das weiche Fell.

„Wenn ich ihn schon früher und einfach nur weil ich es wollte und er mir gefallen hat, gekauft hätte, hätte ich mich wahrscheinlich mehr gefreut. Auch wenn ich mich jetzt freue, dass ich ihn mit achtzig noch tragen könnte.“

„Sie könnten nicht nur, Sie können auch.“

„Ich hab wohl Glück gehabt. Obwohl ich oft gezögert und falsche Entscheidungen getroffen habe. Hat ja auch nicht jeder. Oh, da kommt der Bus.“

„Ich muss etwas erledigen. Kommen Sie gut in den Rosenhof und nachträglich alles Gute zum Geburtstag!“

„Auf Wiedersehen!“

Sie steht auf, zieht den Mantel über ihre Strickjacke und steigt in den Bus und die junge Frau geht zügig die Straße herunter, ehe sie zu laufen beginnt.

Ein Gedanke zu „Heute oder morgen

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