Da wacht morgens einer auf, spürt eine Eiseskälte in sich und eine schmerzhafte Einsamkeit eines verlassenen Menschen. Und er entscheidet sich angesichts dieser endlosen Leere und Stille in sich, seinem Leben ein Ende zu setzen.
So besingt es John Lees – Leadsinger und Kopf der britischen Rockband Barclay James Harvest in dem Song Suicide, veröffentlicht auf der LP Octoberon 1976. Barclay James Harvest dürfte den Älteren noch vertraut sein – lieferten die Briten doch die perfekte Musik, um in den Discos (so hieß das damals) das Licht runterzufahren, damit in der schummrigen Beleuchtung heftig geklammert werden konnte. Wer achtete da schon auf die Texte zum Beispiel von Poor Man’s Moody Blues, in dem eigentlich der gleiche Seelenschmerz besungen wird wie in Suicide?
Suicide? beschreibt die letzten Momente im Leben eines Menschen, der seinem Leben ein Ende setzen will, mit dem Fahrstuhl auf das Dach eines hohen Hauses fährt, dort am Sims steht – und schließlich springt…
Wer sich den Song genau anhört, kann aber der Frage nicht entkommen, ob es sich wirklich um Selbstmord handelt. Zum Einen weist der Songtitel selbst darauf hin, denn er steht auf dem Album mit einem Fragezeichen, oft, ja fast immer später weggelassen. Zum anderen sind da zwei Kleinigkeiten im Text, die einen aufhorchen lassen: Kann es nicht auch sein, dass er am Ende gar nicht gesprungen ist sondern (unabsichtlich) gestoßen wurde? Was sonst könnte „felt the quick push“ gemeint sein?
Kann es nicht ebenso gut auch sein, dass der zynische Ruf von unten, er möge nicht springen, „lass mich erst mein Auto wegfahren“ ihm den letzten Rest Lebenswillen genommen hat, den letzten Kick gegeben hat?
Suicide? lässt viele Spekulationen und Interpretationen zu – das macht das Lied so spannend. Noch spannender aber ist die zweite Songhälfte, da nämlich wird unter der Musik die gleiche Geschichte noch mal durchgespielt – allerdings ohne den Gesang, dafür mit Geräuschen. Man hört die sich schließende Tür, Schritte, es ist das, was der Ich-Erzähler des Songs wahrnimmt. Fahrstuhl, Verkehrslärm, der von unten heraufdringt.
Und es fehlt auch nicht am Ende der „Air Rush“, ein heftiges Rauschen, den Zuhörer*innen ist vollkommen klar, was in diesem Moment geschieht. Ein Schlag und dann Stille – nichts als Stille.
Hier der Text:
I woke up to a feeling, it was cold by my side
You had gone with the sunrise, leaving tears in my eyes
I got up with a feeling of an emptiness inside
To the noise of the sidewalk and the silence of my mind
Well I walked out this morning, down a street with no name
To a club called „The Loser“, like a dog that’s gone lame
Took the club elevator to the floor with a view
I took out life subscription – it’s the only one they do
I stepped out on the guard rail, saw the crowds slowly part
Heard a voice shouting „Don’t jump, please for God’s sake let me move my car!“
Felt a hand on my shoulder, heard a voice cry „Just in time!“
Felt the quick push, felt the air rush
Felt the sidewalk, fell in line
Der Song ist übrigens nicht der Einzige, in dem es darum geht, dass ein Mensch auf dem Dach steht und herunterspringen will. Da wäre zum Beispiel noch die ungleich bekanntere Ballad of Lucy Jordan.
1974 wurde sie für Dr. Hook & the Medicine Show komponiert und von der Band eingespielt, doch richtig populär wurde The Ballad of Lucy Jordan erst 1979 durch eine Neueinspielung der fabelhaften Marianne Faithfull. Ihre herbe Stimme passt perfekt zu dem, was sich im Song abspielt:
Desillusioniert steht Lucy Jordan, eine Hausfrau in den Mittdreißigern eines Abends auf dem Dach ihres Hauses. Alles könnte so perfekt sein, so ganz und gar dem sauberen Ideal amerikanischer Vorstadtidylle entsprechen. Aber das tut es nicht. Denn Lucy erkennt schlagartig, dass ihr Leben gar keinen Sinn hat, sie steckt in einer Sackgasse – aller Sehnsüchte und Hoffnungen, die sie sich einst gemacht hatte, beraubt, nur mit Nichtigkeiten beschäftigt und es ist vollkommen beliebig geworden, was sie tut. Und das überträgt sich auf sie. Die lähmende Langeweile, das betäubende Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit von allem.
Das Lachen in ihrem Kopf wird übermächtig, Lucy flieht aufs Dach des Hauses. Wird sie springen?
Bis heute ist der Song in den Radio Playlists einschlägiger Oldiesender ein Dauerbrenner. Oft gespielt und wie so oft vermutlich ohne den geringsten Gedanken daran, um was es eigentlich im Text geht. Was, nebenbei bemerkt, bei den meisten Songs der Fall ist, sonst würde man sie ja nicht so bedenkenlos im fröhlichen Guten-Morgen-Format ebenso hören wie als Unterbrecher in Radio-Talks.
Bleibt die Frage: Springt Lucy?
Marianne Faithfull hat 2007 in einem Fernsehinterview erklärt, dass es sich bei vielen Hörern um eine Fehlinterpretation handle. Der Song ende nicht in einem Selbstmord, von dem in verschlüsselten Bildern erzählt werde. Lucy Jordan würde keineswegs herunterspringen, sondern von einem Mann an der Hand genommen und wieder heruntergeführt, zu einem langen, weißen Wagen gebracht und davon gebracht. Damit sei ein Krankenpfleger und ein Krankenwagen gemeint – die Fahrt führe ganz offensichtlich in die Psychiatrie, nur in ihrer Phantasie, fühle sie sich, als fahre sie durch Paris.
Hier der Text:
The morning sun touched lightly on
The eyes of Lucy Jordan
In a white suburban bedroom
In a white suburban town
As she lay there ’neath the covers
Dreaming of a thousand lovers
‚Till the world turned to orange
And the room went spinning round
At the age of thirty-seven
She realised she’d never
Ride through Paris in a sports car
With the warm wind in her hair
So she let the phone keep ringing
And she sat there softly singing
Little nursery rhymes she’d memorised
In her daddy’s easy chair
Her husband, he’s off to work
And the kids are off to school
And there were, oh, so many ways
For her to spend the day
She could clean the house for hours
Or rearrange the flowers
Or run naked through the shady street
Screaming all the way
At the age of thirty-seven
…
The evening sun touched gently on
The eyes of Lucy Jordan
On the roof top where she climbed
When all the laughter grew too loud
And she bowed and curtsied to the man
Who reached and offered her his hand
And he led her down to the long white car
That waited past the crowd
At the age of thirty-seven
She knew she’d found forever
As she rode along through Paris
With the warm wind in her hair