Sie hat seit Tagen mit niemandem gesprochen. Die Nachrichten reichen ihr, um ihre Gedanken zu beschäftigen. Und sie verwirren und verunsichern sie. Sie weiß nicht was sie glauben, denken oder tun soll. Und schon gar nicht was das Richtige wäre, das sie tun sollte. Sie will ihre Großmutter anrufen, sie hat immer eine Antwort. Und ohne weiter darüber nachzudenken, wählt sie ihre Nummer. Sie meldet sich wie immer, nur ihr Familienname. Und sie kann auch nicht sehen, wer sie anruft, weshalb sie sagt: ‚Ich bin’s‘, und ihre Großmutter antwortet nur mit: ‚Hallo mein Schatz‘.
‚Wie geht es Dir? Passt Du gut auf Dich auf?‘, will sie wissen.
‚Aber sicher‘, entgegnet ihre Oma.
‚Was passiert da jetzt?‘, fragt sie dann. ‚Was müssen wir jetzt machen?‘.
‚Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass es eine schlimme Grippewelle gab. Nach dem ersten Krieg. Sie mussten fast ein Jahr zu Hause bleiben. Hatten keine Schule und man hat allenfalls die eigene Familie treffen können. Nach einem Jahr war es wieder weg. So wird das auch sein. Kann ja nicht anders.‘
‚Und wenn doch?‘, fragt sie. ‚Kann man das länger aushalten?‘
‚Sicher, müssen wir ja dann.‘
‚Kann ich zu Dir kommen?‘
‚Sicher‘.
Sie legt auf, und das Gefühl zu ihr zu fahren, von ihr in den Arm genommen zu werden, mit ihr am Küchentisch zu sitzen und dabei Nachrichten zu schauen, beruhigt sie.
Und dann erinnert sie sich, dass sie nicht mehr da ist. Sie ist weg, seit elf Jahren. Doch für sie, ist sie immer noch da. Sekundenweise, um dann zu bemerken, dass sie nicht mehr anrufen kann, nicht reden oder umarmen. Doch mit ihr sprechen kann sie noch. Und spüren, dass es sie gegeben hat. Auch wenn es sich merkwürdig anfühlt, nach all der Zeit. Sie hat sich nicht verändert, sie ist noch immer, wie sie war. So wie sie war, bevor sie krank wurde. Sie versteht sie immer, sagt jedes Mal etwas Hilfreiches und immer das Richtige. Selbstverständlich will sie mit ihr reden und selbstverständlich tut sie es. Wenige Augenblicke in denen sie die Realität vergessen und sich aufgehoben fühlen kann. Und mit den Jahren hat sie verstanden, auch diesen Schmerz zu verdrängen, den sie empfindet, wenn sie merkt, dass sie eben doch nicht mehr da ist und sie kann die Bruchteile von Sekunden genießen, in denen sie darauf vertrauen kann, ihr trotzdem begegnen und sicher sein zu können. Ganz sicher, ohne darüber nachzudenken.
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