Vom Schreiben einer Trauerkarte

Den Krebs hatte sie überwunden – dachte sie. Jahrelang hatte die Krankheit sie immer wieder in die Knie gezwungen, aber sie hatte gekämpft. Eins ums andere Mal.
Alle wussten davon, unterstützten sie, wo es ging und dann war der Tag gekommen, als die Ärzte ihr sagten, nun sei sie krebsfrei.
So war es dann auch. Zumindest einige Jahre. Dann aber kam das Untier zurück. Mit aller Macht und aller Boshaftigkeit.
Dieses Mal wusste sie wohl, dass sie den Kampf nicht würde gewinnen können. Und sie erzählte niemandem davon. Nur ihrem allerengsten Kreis, der Familie, dem Mann, den beiden Söhnen.

Und sie verpflichtete sie, nie wieder davon zu sprechen. Es begann das ganz große Verdrängen.
Nur lässt sich Krebs nicht verdrängen.
Es ging ihr schlechter und schlechter, aber sie sprach nicht darüber. Jedes Gespräch mit anderen, wie es ihr denn gehe, beendete sie unmittelbar.
Erst als sie ins Krankenhaus kam, erfuhren Freunde und weitere Verwandte, wie es ihr wirklich ging. „Nicht gut!“ hieß es, aber schon die Tatsache, dass sie gleich auf die Palliativstation verlegt wurde, ließ Arges vermuten. Denn, dass es ihr nicht nur nicht gut sondern wirklich schlecht ging, das hatte niemand gewusst, niemand geahnt. Vielleicht nicht einmal ihre Söhne, nicht einmal ihr Mann. Sie hatte sich das Recht herausgenommen, es einfach nicht wahrhaben zu wollen, einfach nicht mehr an sich heranzulassen.
Auf der Palliativstation blieb sie drei Tage, dann wechselte sie ins Hospiz. Jetzt war jedem klar, wie es um sie stand.
Für weitere vier Tage blieb sie im Hospiz.
Sie starb mit 62 Jahren.

Ich sitze am Esstisch, starre auf die vor mir liegende leere Trauerkarte aus dem Ständer des kleinen Dorfladens. Gut, wenn man immer ein paar im Haus hat, denke ich. Dann hat man im Falle eines Falles eine zur Hand und mus

s nicht erst noch los, bekommt es nicht auf die Reihe, vergisst es und dann letztlich auch, die Karte zu schreiben und abzuschicken. Gerade in solchen Fällen.

Ich rolle den daneben liegenden Stift auf dem Tisch hin und her, immer eine Dreivierteldrehung bis zum Clip, der das Weiterrollen blockiert, dann zurück. Wieder und wieder und wieder.
Ist das schon Stimming? Das mechanische Wiederholen einer Körperhandlung zur Reizreduktion sicher nicht, aber zur Stressreduktion, zum Abmildern einer unangenehmen Emotion. Ich weiß nicht, was ich jetzt in diese Karte schreiben soll. Was dem Mann sagen, den ich kaum kenne, was den Söhnen, die nicht mal wissen, wer ich bin?

Frei von der Leber weg – vollkommen bar jeder angemessenen Wortwahl den ersten und spontanen Gedanken?
Krebs ist ein Arschloch!
Oder lieber doch nur die vorgestanzten Worthüllen „Unser aufrichtiges Beileid“ verwenden, von der tiefempfundenen Anteilnahme schreiben und weitere unverbindliche Beiläufigkeiten auf das Papier setzen?
Was Persönliches? Aber was?

Die Karte bleibt liegen. Einen Tag noch. Morgen kann ich sie auch noch abschicken. Kommt doch auf einen Tag eher oder später nicht an. Am Freitag liegt sie immer noch da. Ungeschrieben. Eine Woche lang.
Morgen ist Samstag, da fahren wir zum Einkaufen. Da ist auch der Briefkasten direkt vor dem Supermarkt. Das ist der allerletzte Termin.
Aber die Adresse und den Absender, die schreibe ich jetzt schon auf den Umschlag und klebe die Marke darauf.
Wenigstens das ist schon gemacht.

2 Gedanken zu „Vom Schreiben einer Trauerkarte

  1. Pingback: Hallo Bot, schreib mir eine Trauerkarte | Totenhemd-Blog

  2. Wenn man trauert, ist man eh auf einem anderen Stern, da hilft einem nichts und keine*r. Aus der Erfahrung (ich habe schon Trauerkarten bekommen) weiß ich (für mich): Persönliches hat die Chance durchzubrechen, schreib von deiner Fassungslosigkeit bei der Todesnachricht, dass du sie gekannt und gemocht hast – und warum.
    So was schreibt sich nie leicht. Viel Glück.
    Abendgrüße ☁️🌼🍵🍪

    Gefällt 3 Personen

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