Er steigt auf den Stuhl und schiebt die Nase bis zur Scheibe nach vorn. Das Kinn liegt dabei auf dem schmalen Fensterbrett und wenn er den Kopf ein wenig nach hinten neigt, kann er den Himmel und die Baumkronen hinter der Mauer über den Stacheldraht hinweg sehen und auch das Gitter zerschneidet den Blick nicht. Im Gang wird der Wagen, mit dem das Geschirr eingesammelt wird, über den unebenen Boden geschoben und die Löffel klappern auf den unzerbrechlichen Tellern. Er trägt noch den Anzug, der einmal sein Glücksanzug war, seine Krawatte hat er wieder abgeben müssen. Die rechte Hand ist verbunden und er spürt den Schmerz nun wieder stärker pochen, nachdem die lokale Anästhesie langsam ihre Wirkung verliert, die ihm verabreicht wurde, um die tiefsten Schnitte zu nähen. Noch mehr Narben.
Als er nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder alleine vor einem richtigen Spiegel stand und sich in die Augen sah, konnte er den Anblick nicht ertragen. Ihm war die Hand ausgerutscht, die zusammengeballte Hand. Der Spiegel konnte dem Schlag nicht widerstehen. Wieso hatte er nicht daran gedacht, eine der Scherben einzustecken? Einer seiner Kollegen brachte ihn auf Anweisung in die Notaufnahme. Die Schnitte wurden genäht und die Hand anschließend verbunden. Der Anzug hatte außer einem kleinen Blutfleck an der Unterseite der rechten Manschette nichts abbekommen. Er hatte ihm immer Glück gebracht, wenn er ihn trug. Bis zu dem Tag als eine Richterin und die beiden Schöffen ihm nicht glaubten und ihn für dreieinhalb Jahre hierher schickten. Nach zwei Dritteln der Zeit darf er nun tagsüber die Haftanstalt verlassen und arbeiten. Nicht in seinem Beruf. Seine alte Stelle ist längst wieder besetzt und eine Chance haben ihm nur wenige geben wollen. Genau genommen nur einer. Er hatte die Buchhaltung des kleinen Kurierdienstes und vielleicht nach der Einarbeitung auch die Dienstpläne machen sollen. Das war der ursprüngliche Plan. Als er blutend mit dem Kollegen vom Hof fuhr, rief man ihm hinterher, dass er morgen nicht und auch überhaupt nicht wiederkommen müsse.
Vor Gericht beteuerte er, dass er das alles nicht gewollt hatte und es ihm aufrichtig leid tue, was passiert sei. Sie glaubten ihm nicht. Nur seinem Geständnis, zu dem ihm sein Anwalt riet. Bis zu dem Tag, der zu seiner Verurteilung führte, waren nur gute Dinge passiert, wenn er den Anzug trug. Er war seine Rüstung gewesen. In ihm hatte er Eindruck machen und sich verstecken können. Er trug ihn, als er das letzte Mal befördert wurde. Und als er den neuen Dienstwagen abholte. Er trug ihn auch, als er Karina kennenlernte. Karina, die immer ein wenig zu laut, immer etwas zu spät und immer an den falschen Stellen lachte. Doch nie über ihn. Nur über seine Scherze und mit ihm, selbst wenn sie nicht verstand, worüber er sich amüsierte. Auch bei der Beerdigung seiner Mutter hatte er den Anzug an und bei seinen Gerichtsverhandlungen. Es ist offensichtlich, dass es sein Anzug ist, kein geliehener. Dass er ihn schon oft getragen hat und nicht nur, weil man das vor Gericht oder bei einer Trauerfeier eben tut. Er saß einmal so gut, als sei er für ihn gemacht worden, auch wenn er das nicht war. Er war nicht von einem Maßschneider für ihn geschneidert, doch passgenau geändert worden, ehe seine Sekretärin ihn in einem schwarzen Kleidersack mit der Aufschrift der Schneiderei für ihn abholte. Die Verpflegung während der Haft ist ungenießbar, weshalb er etwas abgenommen hat und der Anzug nun nicht mehr ganz so gut sitzt. Bis zu seinem Haftantritt trug er ihn immer mit teuren Krawatten und dazu passenden Einstecktüchern. Die Richterin und Schöffen konnte er damit nicht beeindrucken. Eine Krawatte liegt jetzt in seiner Kiste, in die er fast alle persönlichen Gegenstände legen musste, bevor er zum ersten Mal eingeschlossen wurde. Heute vor achthundertzweiundfünfzig Tagen.
(Die Geschichte wird fortgesetzt und kann auch auf https://einundzwanziguhr.blogspot.com/2022/11/uber-scherben-laufen-1.html jeweils zusammenhängend bis zum jeweiligen Veröffentlichungsstand gelesen werden)