Wenn sie nicht bei ihm ist, ist sie für ihn viel präsenter. Dann trägt er sie andauernd in seinem Kopf mit sich herum, kann sie augenblicklich sehen, wenn er das will, ist voller Ideen und Vorfreude darauf, dass er sie irgendwann wieder berühren kann, sie umarmen und seine Stirn gegen ihre legen kann. Wenn sicher wäre, dass sie keinesfalls zurückkäme, weil sie gar nicht zurückkommen könnte, ginge das nicht mehr. Deshalb müsste er wissen, wenn sie nicht nur gerade nicht da, sondern für immer fort wäre. Wenn es keine Möglichkeit, gar keine, gäbe, dass sie einmal wieder da sein könnte.
„Versprich mir, dass ich erfahre, wenn Du tot bist“, hat er ihr gesagt.
Sie hat gelacht und gefragt, ob er auch wissen wolle, wenn sie sterbe oder ob eine Mitteilung danach ausreichend sei. Er hat sie gebeten, ihn ernst zu nehmen und versucht ihr zu erklären, warum er wissen müsse, wenn sie tot sei. Weil er dann Abschied nehmen müsse, für immer und nicht nur ein paar Stunden oder Tage, von seinen Hoffnungen, weil er dann keine mehr haben könne. Sich nicht mehr vorstellen könne, wie sie sich das nächste Mal begegneten. Er sich dann sicher sein könne, dass sie auch bei niemand anderem wäre und ganz egal wer sie sonst nicht geliebt habe, ihr das niemand mehr zeigen und niemand es sie noch spüren lassen könne. Er könnte dann anfangen aufzuhören sie zu lieben. Vielleicht würde er ruhiger werden. Das ginge nicht, wenn die auch nur ganz entfernte Möglichkeit bestünde, dass sie wieder käme oder sie sich noch einmal sehen könnten, irgendwann.
„Wäre es nicht schöner, wenn Du immer noch an diese Möglichkeit glauben könntest?“, hat sie von ihm wissen wollen und er hat schlicht „Nein“ gesagt.
„Wieso nicht?“, fragt sie nach.
„Weil es mir unerträglich erscheint, die Möglichkeit theoretisch schon doch praktisch nie zu haben. Weil Dich schon andere lieben und Du meine Liebe nicht brauchst. Ich Deine schon.“
„Zu wissen, dass ich tot bin, ist leichter für Dich?“
„Ja. Wenn Du wirklich tot bist. Dass Du dann tot bist, wird nicht leicht sein. Doch zu wissen, dass Du nicht wegen mir oder dem was ich fühle nicht zurückkommst, das wäre leichter.“
„Ich kann Dich nur verlassen, wenn ich sterbe?“
„Sonst bist Du immer noch da. Auch wenn Du nicht bei mir bist.“
„Ich will Dich nicht verlassen. Auch nicht, wenn ich tot bin. Vergiss das nicht, nie.“
Sie hatten schweigend zu Abend gegessen. Gerd hatte Strammen Max gemacht und einen Teller vor Evelyn gestellt, ehe er sich setzte und zügig begann sein Schinkenbrot mit Messer und Gabel in viele kleine mundgerechte Stücke zu teilen. Dabei achtete er penibel darauf, den Dotter des Spiegeleis, das darauf lag, nicht zu verletzten. Er schob es schließlich beiseite und aß es ganz zum Schluss, nachdem er es mit der Gabel angestochen hatte und kurz beobachtete, wie das orangefarbene dickflüssige Innere zäh auseinanderlief, ehe er es schnell erst auf die Gabel und dann in den Mund schob. Evelyn hielt Messer und Gabel in der Hand, hatte sie jedoch nicht benutzt, sondern schweigend und angewidert Gerd zugesehen, wie er das Brot sezierte, während ihre Portion unberührt vor ihr stand und kalt wurde. In dem Moment, in dem er genüsslich das angestochene Eigelb aß, begann sie ihn anzuschreien. Wie sehr sie es hasste, dass er immer wieder Strammen Max für sie machte. Dass er das Eigelb, das seiner Meinung nach Beste, wie im Ausverkauf bei Hertie, immer bis zum Schluss aufhob. Das Geräusch, das er machte, wenn er den Eidotter endlich in den Mund nahm. Gerd hörte ihr mit erschrocken aufgerissenen Augen zu, um dann ebenso lautstark zu erwidern wie abscheulich er es fand, dass sie Messer und Gabel nicht einfach in die Hand nahm, sondern an beiden Händen die kleinen Finger abspreizte, als sei sie zum Tee bei der Queen, nie anfing zu essen, ehe er fertig war, weil sie erst dem Dackel gut zuredete, der regelmäßig gefüttert wurde, bevor sie sich zum Essen setzen konnte. Nachdem sie sich nichts mehr zu sagen hatten und sich er Dackel in sein Körbchen unter der Treppe verkrochen hatte, sahen sie sich wieder wortlos an, bis Evelyn Gerds Anblick nicht mehr ertrug und aufstand. Sie begann den Geschirrspüler einzuräumen und klapperte mit Geschirr und Besteck während Gerd ins Wohnzimmer ging, eine Wagner-Arie anschaltete und seine Kopfhörer aufsetzte, um Monteserrat Caballé besser und Evelyn und das Geklapper nicht mehr zu hören. Dabei klopfte er immer lauter den Takt mit seinen Fingernägeln auf der Marmorplatte des Couchtisches mit, während Evelyn den Bratwender ein paar Mal gegen die Pfanne schlug, was Gerd wegen der Kopfhörer gar nicht mitbekam. Als der Geschirrspüler eingeräumt war, ging Evelyn mit entschlossen Schritten die Holztreppe hinauf ins Bad, schminkte sich ab und putzte ihre Zähne, um dann mit Ihren Akten ins Bett zu steigen und in Ruhe zu arbeiten. Gegen Mitternacht legte sie die Papiere auf den Nachttisch, löschte das Licht und nur wenige Augenblicke später kam auch Gerd ins Bett, so als hätte er vor der Tür darauf gewartet, bis sie die Lampe ausschaltete.
Er legte sich im Dunkeln neben Evelyn, die vorgab schon zu schlafen und Gerd tat, als würde er es glauben, um ihr keine gute Nacht wünschen zu müssen. Evelyn atmete weiter langsam und ruhig, während sie zuhörte, wie Gerds Atmung langsam ebenfalls tiefer und ruhiger wurde. Gerade als Evelyn begann sich zu entspannen, hörte sie ein erstes deutliches Schnauben neben sich und wie Gerd mit einem Schmatzen, bei dem sich seine Zunge vom Gaumen löste, er den Mund öffnete und sich anhörte, als würde er von einem weiteren Eigelb träumen, dann scheinbar kurz die Luft anhielt und heftig und deutlich hörbar mit einem Grunzen durch die Nase einatmete. Sein Schnarchen hielt sie inzwischen in den meisten Nächsten vom Einschlafen ab, da sie wegen ihrer Arbeit sonst regelmäßig später schlafen ging als er. Evelyn drehte Gerd den Rücken zu, lauschte den unregelmäßigen Geräuschen hinter sich und schreckte immer auf, nachdem sie kurz dachte, nun würde er Ruhe geben und dann doch nur ein paar Sekunden später immer noch einmal laut schnarchte. Nach jedem Schnarchen schaute Evelyn zu der Uhr auf ihrem Nachttisch, von der ihr in roten Ziffern entgegen leuchtete, wie wenig Zeit ihr in der Nacht noch zum Schlafen blieb. Schließlich setzte sie sich hin, schüttelte noch einmal ihr Kissen auf und starrte in die Dunkelheit, die die roten Ziffern übrig ließen. Dann schnarchte Gerd wieder, lauter als alle Male zuvor. Evelyn bemerkte einen Gedanken, der sich in ihrem Gehirn ausdehnte, hier und dort anstieß, immer wieder schnell die Richtung wechselte, lauter wurde und sie wartete angespannt darauf, was er auslösen würde. Sie sah rot auf dem Display ihres Weckers, dass es bei Gerds letzten Atemzug null Uhr achtundfünfzig war.
Herrmann blickte in den Garten, neben seinem stand Ingrids Sessel. Er dachte daran, wie sie sich zum ersten Mal begegneten und sich das erste Mal trennten ehe sie entschieden, ihr Leben miteinander zu verbringen.
Er war für seine erste Arbeitsstelle gerade erst in die Stadt gekommen. Seine Buchhaltungskenntnisse und eine Begegnung seines Vaters mit einem Steuerberater im Zug nach Bielefeld hatten dazu geführt, dass er eine Bewerbung als Bilanzbuchhalter zu Herrn Höckendorf nach Bad Salzuflen geschickt hatte. Und die Tatsache, dass sein Vater Herrn Höckendorf davor bewahrt hatte, in Bielefeld in den falschen Anschlusszug zu steigen, führte dazu, dass er bereits zwei Wochen später eine Zusage inklusive eines unterschriftsreifen Arbeitsvertrages erhielt. Ohne zu zögern oder noch einmal mit seinen Eltern darüber zu sprechen, unterzeichnete er und schickte den Vertrag an Herrn Höckendorf zurück. Er würde am ersten Juni bei Herrn Höckendorf für ein monatliches Gehalt von 460 Deutschen Mark als Bilanzbuchhalter anfangen – in Bad Salzuflen. Herrmann war noch nie dort gewesen, kannte, außer Herrn Höckendorf – und den auch nicht persönlich – niemanden, wusste nicht, wie er dort hinkommen sollte und schon gar nicht, wo er wohnen würde. Das Büro von Herrn Höckendorf lag in der Altstadt. Er musste Herrn Höckendorf, lange vor Google und seinen Maps, anrufen um herauszufinden, wie er dort hinkommen würde. Bei der Gelegenheit fragte er auch gleich, ob er eventuell irgendwo ein Zimmer anmieten könne. Herr Höckendorf beschrieb ihm den Weg vom Bahnhof, der zu Fuß etwa 10 Minuten dauerte und gab ihm die Telefonnummer seiner Schwiegermutter Frau Schleich, die ihm eventuell ein Zimmer in ihrem Souterrain vermieten könne, das Haus liege auf halben Weg zwischen Bahnhof und Büro. Nach einem Anruf bei Frau Schleich, die ihm das Zimmer für 60 Mark vermietete, informierte er seine Eltern und ging zum Bahnhof um eine Fahrkarte nach Bad Salzuflen zu kaufen.
Er hatte am ersten Juni seinen guten Anzug und die guten Schuhe angezogen und noch zwei Hemden eingepackt, die seine Mutter ihm vor seiner Abreise gekauft, gewaschen und gebügelt hatte. Neben seiner Nacht- und Unterwäsche, weiteren Hosen und Strickhemden, Rasierzeug und Zahnbürste hatte er auch seine Fußballschuhe ganz unten in die große Tasche gestellt und das Trikot seines bisherigen Vereins danebengelegt. Er war sehr früh losgefahren und stand pünktlich 15 Minuten vor Dienstantritt am Bahnhof in Bad Salzuflen. Mit Hilfe des Zettels mit der fernmündlichen Wegbeschreibung von Herrn Höckendorf ging er los und hatte nach etwa 13 Minuten das Gefühl möglicherweise doch einmal zu früh links abgebogen zu sein. Auf der anderen Straßenseite sah er Ingrid, deren Namen er damals selbstverständlich noch nicht kannte. Sie war offensichtlich auch auf dem Weg zur Arbeit, trug einen Rock und eine Bluse unter dem beigefarbenen Mantel und eine Brille, die ihr wenig schmeichelte, sie aber gebildet und zielstrebig aussehen ließ. Herrmann schaute lieber auf ihre Beine und hätte fast den Wagen übersehen, der durch die enge Straße fuhr. Nach dem vermiedenen Zusammenstoß sprang er auf den Bürgersteig vor Ingrid und wünschte ihr einen guten Morgen. Er stellte sich vor und entschuldigte sich für die Störung. Dann erzählte er, vielleicht etwas zu aufgeregt und stolz, von seinem anstehenden ersten Arbeitstag bei Herrn Höckendorf, nur um dann einräumen zu müssen, dass er den Weg dorthin nicht finde. Ingrid, die, wie sie sagte, Ingrid Oelmüller hieß, beschrieb ihm, dass er nur noch zwei Mal rechts abbiegen müsse und dann schon am Büro von Herrn Höckendorf, der übrigens ihr Patenonkel sei, wäre.
Er kam pünktlich bei Herrn Höckendorf an und zu seiner Überraschung besuchte Ingrid in der Mittagspause ihren Patenonkel. Das tat sie von da an jeden Dienstag und Donnerstag. Manchmal ging sie mit Herrn Höckendorf in einem nahe gelegenen Gasthof etwas essen, meist aber schlenderte sie, nach einer kurzen Unterhaltung mit Herrmanns Chef, mit dessen Sekretärin, Fräulein Siepe, in den Kurpark und sie aßen Brote, die sie morgens zu Hause vorbereitet hatten. Herrmann konnte in dem Haus von Frau Schleich eine kleine separate Küche im Souterrain mitbenutzen, die er sich mit einem weiteren Mieter eines Zimmers im Keller von Frau Schleich teilte. Dort machte er sich am Vorabend Pausenbrote, die er morgens nur noch einpacken musste und dann an seinem Schreibtisch aß, während er die Tageszeitung, die morgens zunächst Herr Höckendorf durchsah, las und anschließend Fräulein Siepe brachte. Bei einer dieser Gelegenheiten erzählte Fräulein Siepe von Ingrid. Sie arbeitete nicht weit von Herrn Höckendorfs Büro bei einem Rechtsanwalt, Herrn Dr. Schleich, dem Schwager von Herrn Höckendorf und dem Sohn von Herrmanns Vermieterin. Herrmann fragte, ob er denn Fräulein Siepe und Ingrid einmal in der Mittagspause begleiten dürfe, sie könnten doch gemeinsam ihre Brote essen. Fräulein Siepe würde Ingrid fragen und bereits am nächsten Donnerstag gingen die drei gemeinsam in der Mittagspause mit den Pausenbroten in der Hand in Richtung Kurpark. Herrmann erzählte von seinen ersten Wochen in Bad Salzuflen, seinen Aufgaben im Büro von Herrn Höckendorf und noch ausführlicher von seinen Einsätzen als Mittelstürmer bei seinem bisherigen Fußball-Verein, dem Gewinn der Meisterschaft im letzten Jahr und seiner Auszeichnung als Torschützenkönig. Fräulein Siepe erklärte nach wenigen Minuten, dass sie für Herrn Höckendorf noch etwas aus der Apotheke holen müsse und verabschiedete sich. Herrmann wunderte sich damals nicht, wie sie das in der Mittagspause erledigen konnte, wo doch auch die Apotheke, wie alle anderen Läden in der Stadt, erst um 14:00 wieder öffnete. Stattdessen erzählte er weiter von zu Hause und betrachtete Ingrids Beine. Auf dem Weg in den Kurpark gesehen hatte er gesehen, dass sonntagsnachmittags im Kurhaus ein Tanztee stattfand. Er hatte noch keine neue Mannschaft in Bad Salzuflen gefunden für die er spielen konnte, zudem war Sommerpause, so dass er Ingrid zum Tanztee einlud, was sie sichtlich erfreut und umgehend annahm.
Deine Katze läuft die Treppe hinauf. Seit Tagen hat sie neben Dir gesessen. Jetzt ist es ganz ruhig draußen und sie will hinaus. Du gehst ihr nach. Sie sitzt jetzt im Garten und der Hund des Nachbarn bellt unter dem Zaun hindurch, seine Kiefer öffnen sich regelmäßig. Ganz still. Du schaust Dich um. Der Ton ist abgeschaltet. Wie den Hund hörst Du die Flugzeuge nur in Deinem Kopf. Dort hinten ist eine Explosion-in Deinem Kopf. Am Horizont steigt eine Rauchwolke auf. Du siehst Menschen, die auf dem Bürgersteig liegen. Kein Laut. Du riechst Angst. Riechst Dich selbst, weil Du Dich in Deinem Keller nicht waschen kannst, keine Kleider zum Wechseln mitgenommen hast. Ein Mann der vorbei läuft winkt und ruft etwas. Du verstehst ihn nicht, doch er riecht wie Du, nach Keller und Agonie.
Du folgst ihm langsam, gehst an den Leuten vorbei, die dort liegen. Riechst ihre Wunden, Blut und das Treibladungsmittel, das die Geschosse in sie getrieben hat, verbrannte Kleidung und Haut. Und Du witterst den Rauch der Explosionen, die in der Ferne noch zu sehen sind und die, die vor einigen Stunden Häuser, Bäume, Fahrzeuge zerstört haben. Den Staub, der sich nur langsam setzt. Benzin und Holzfeuer, die jemand angemacht hat, damit Du und die anderen sich aufwärmen können. Und löslichen Kaffee. Du trinkst ihn, als Du ihn angeboten bekommst, um kurz nichts anderes riechen zu müssen. Um so tun zu können, als wäre es nur irgendein Morgen und nicht einer, an dem es vielleicht kein Morgen mehr gibt. Du siehst viele schweigen und manche reden. Riechst ihre Wut, wenn sie in Rage kommen, Schweiß, den Atem der vergangenen Nächte, sauer, abgestanden und immer wieder aufgewärmt. Kein Laut, doch unzählige Gerüche und Gestank, unerträglich wie die verstummten Schreie, der Krieg in Deinem Kopf.
Es ist der Tag nach ihrem achtzigsten Geburtstag. Der Sohn eines Nachbarn hat für sie mit ein paar Freunden in dem bereits verkauften und fast leeren Haus einen Flohmarkt organisiert um Werkzeuge ihres verstorbenen Mannes und Spielzeug ihrer längst erwachsenen, im Ausland lebenden Kinder zu verkaufen. Er und seine Freunde sind längst weg. Sie geht noch einmal allein durchs Haus und nimmt aus einem Schrank im Keller eine pralle Kleiderhülle heraus. Wie für vieles andere hat sich niemand dafür interessiert. Was jetzt noch im Haus ist, wird entsorgt werden. Sie legt sich den Kleidersack über den Arm, schließt die Haustür ab und geht zur Bushaltestelle, um zu ihrer neuen Wohnung zu fahren, die vielleicht ein neues Zuhause werden wird. Zwei Zimmer, Bad und Küchenzeile in einer Seniorenwohnanlage mit einem romantischen Namen, funktioneller Einrichtung, medizinisch geschultem Personal und überwiegend gleichaltrigen Mitbewohnerinnen. Alles etwas schicker als sie es bislang gewohnt gewesen ist. Gut, dass ihr der Kleidersack noch eingefallen ist.
„Ist der Bus schon weg?“, fragt sie eine junge Frau, die an der Bushaltestelle sitzt und das verneint.
Sie setzt sich ebenfalls und legt die Kleiderhülle über ihre Knie.
„Der soll aber doch um fünf vor kommen, oder?“, fragt sie weiter und die junge Frau nickt.
„Naja, wenigstens wird es mir nicht kalt werden“, ergänzt sie. „Wir haben noch ein Gläschen auf meinen Geburtstag getrunken, da ist mir warm geworden und ich habe meinen Pelzmantel dabei, meinen Nerz.“
„Der ist in der Hülle?“, will die junge Frau wissen.
„Ja, ich weiß, das macht man nicht, Pelz kaufen. Aber jetzt besprüht einen ja niemand mehr, wenn man einen Pelz trägt und ich habe gedacht, ich sterbe. Damals, als ich ihn gekauft habe.“
„Und jetzt glauben Sie nicht mehr, dass Sie sterben?“
„Na doch, aber nach der Mitteilung des Arztes damals hab’ ich geglaubt, dass ich ganz schnell stürbe. Da bin ich nach Hause und habe Anna, unsere Putzfrau gefragt, ob sie sich um meinen Mann kümmern würde, wenn ich tot bin. Sie ist schon ganz lange bei uns gewesen. Und als sie gesagt hat, dass sie das machte, habe ich mir einen Nerz gekauft. Dreitausendfünfhundert Mark hat der gekostet.“
„Wieso?“
„Ich habe immer einen Nerz haben wollen. Und ich habe mir keinen besseren Zeitpunkt vorstellen können, weil später vielleicht zu spät gewesen wäre.“
Er sitzt in der letzten Reihe zwischen seine Kollegen. Herbert ist eingenickt. Walter und Ronny schauen auf ihre Knie, wo in ihren Händen ihre Telefone liegen und Zeichtrickfilme für Walter abspielen und Ronny versucht ein Sudoku zu vervollständigen.
Ganz vorne sieht ihnen die Pastorin entgegen und redet über ein finsteres Tal.
„Pssst!“
Sie unterbricht sich nicht und lässt die Anwesenden wissen, dass sie kein Unglück fürchtet und auch niemand anderer.
In den Reihen vor ihm drehen sich zwei junge Frauen um und sehen dann wieder zur Pastorin, die durch Stecken und Stab getröstet wird.
„Pssst!“
Wieder drehen sich die beiden Frauen um und auch eine älteres Paar einige Reihen noch weiter vorne. Die jungen Frauen stoßen sich an und flüstern sich etwas zu. Das Paar schüttelt die Köpfe.
„Pssst!“
Die jungen Frauen und das Paar schauen wieder nach hinten. Herbert erschreckt, steht eilig auf und stößt dabei gegen seinen Stuhl. Walter, Ronny und er erheben sich ebenfalls.
„Pssst!“
„Amen“, sagt die Pastorin und der Organist beginnt mit dem letzten Stück.
Er, Walter, Herbert und Ronny gehen langsam den Weg zwischen den Trauergästen nach vorne auf den Sarg zu. Ganz vorne sitzen Frauen mit großen schwarzen Hüten und Sonnenbrillen, je dichter sie kommen um so deutlicher hört er sie schluchzen.
„Pssst!“
Und das Schluchzen wird lauter.
Herbert und er gehen an die hinteren Ecken des Sarges, Ronny und Walther an die vorderen. Die Orgel verstummt.
„Pssst!“
Wie auf sein Kommando greifen er und seine Kollegen an die Griffe. Die Pastorin macht den ersten Schritt in Richtung Ausgang und die folgen ihr und schieben den Sarg zwischen den Trauergästen hindurch. Vor der Aussegnungshalle warten weitere Trauernde. Die Gäste aus der Kirche folgen dem Sarg und als die Wartenden draußen, die ersten sehen und erkennen können, beginnen sie in Taschen nach Telefonen und Kameras zu kramen.
„Pssst!“
Als der Sarg vorbei rollt, wird es still, ehe weiter gekramt wird und die ersten beginnen zu tuscheln. Ein Zipfel des Totenhemds.
„Pssst!“
Wie eine Welle rollt das Tuscheln und Wühlen in Beuteln und Rucksäcken durch die Reihen von Trauernden, die den Sarg und die Gäste nach und nach zum ersten Mal sehen.
„Pssst!“
Nach und nach verstummt die Menge, während die engsten Angehörigen sich an der Grabstelle versammeln. Die Frauen mit den Hüten schluchzen noch mehrfach laut auf, als der Sarg in das Grab hinabgelassen wird.
„Pssst!“
Eine der Frauen mit Hut schnäuzt sich laut die Nase und setzt ihre Sonnenbrille ab und beginnt zu singen.
„Pssst!“
„Pssst!Pssst!“
Er sieht sich um und fühlt sich zum ersten mal an diesem Tag nicht alleine.
Die Trauerfeier fand drei Tage später statt. Jakob war nach der Nacht auf ihrer Couch wieder zurück in seine Wohnung gegangen und Katharina traf ihn auf dem Friedhof. Paula und Bruno hatten darauf bestanden mitzukommen. Jakobs Studienfreund Daniel war gekommen. Die beiden hatten während ihres Studiums gemeinsam in einer Band gespielt. Als sich Jakob auf Geriatrie spezialisiert hatte, entschied sich Daniel für die Dermatologie. Er schien der wildere von beiden gewesen zu sein. Durch das weiße Hemd, das er unter seinem schwarzen Anzug trug, schimmerten großflächige Tätowierungen, die im Nacken über seinen Hemdkragen, und an den Manschetten über seine Handrücken heraus zu kriechen schienen.
Weder Karl noch Jakob hatten Geschwister und so saßen sie zu fünft vor wenigen noch lebenden von Karls Freunden und einiger seiner früheren Nachbarn und hörten sich, von einem Pfarrer, dem Karl nie begegnet war, Karls Lebensgeschichte und vermeintlich tröstende Bibelstellen an.
Und Karl wollte Kylie Minogue hören, für die er immer eine Schwäche gehabt hatte. Als am Ende der Trauerfeier die ersten Takte von ‚I Should Be So Lucky‘ erklangen, waren einige der Trauergäste irritiert. Bruno und Paula fingen an zu kichern, der Pfarrer begann an seinem Rednerpult zu wippen und mit einer Hand den Takt zu schlagen, und Jakob, Katharina und Daniel sangen falsch, aber mit.
Der anschließende Trauerkaffee fand im Speisesaal des Kurstifts statt. Jakob hatte sich einige Tage frei genommen und war seit Karls Tod nicht mehr dort gewesen. Herr Bergmann kam dazu, kondolierte Jakob und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Nun konnte auch Paula Herrn Bergmann kennenlernen. Sie saßen zu sechst am Ende des Tisches bei wahlweise Kaffee, Tee oder Limonade und Streuselkuchen. Paula und Bruno erzählten Herrn Bergmann von Kylie und Bruno fragte Daniel, ob es sehr weh tue, sich tätowieren zu lassen. Seine Antwort, dass das auf die Körperstelle ankäme, führte in einen detailreichen anatomischen Diskurs, den Katharina mit dem Hinweis auf ihre Erziehungsberechtigung und Bruno mit einem: „Menno“ beendet.
Sie ist immer dabei. Meine Freundin aus Kindertagen. Jeder hat eine Freundin oder einen Freund. Die meisten verlieren sie irgendwann oder vergessen sie. Ich nicht. Immer wenn ich dazu Gelegenheit habe, rede ich mit ihr. Am liebsten gehe ich mit ihr spazieren. Habe ich heute Nachmittag auch gemacht, auf dem Waldfriedhof in Zehlendorf, vorbei am Grab von Hildegard Knef.
Meine Freundin kichert, weil ich mir ein Lied von ihr gewünscht habe für heute Abend. Viel lieber hätte ich mir besseres Wetter gewünscht. Es könnte doch warm sein und vielleicht noch ein bisschen hell. Dumm gelaufen. Aber im Dunkeln sieht man die Fackeln besser. Sie ist beeindruckt von dem Gedanken, dass Hunderte mit Fackeln für mich aufmarschieren werden. Und dann eine Kapelle für mich spielt. Es ist ja nicht das erste Mal, irgendwie unwirklich ist es jedes Mal und jedes Mal sitzt, steht oder geht sie neben mir. Als wir die Lieder ausgesucht haben, haben wir beide viel Spaß gehabt. Mit sechzehn war Nina Hagen die größte für mich, deshalb war schnell klar, dass der Farbfilm heute dabei sein muss. Und mit sechzehn habe ich mir alles mögliche gewünscht, nur das hab ich mir nicht vorstellen können.
Verrückt, dass ich das sechzehn Jahre gemacht habe. Alle möglichen Menschen getroffen, große, kleine, mächtige, ohnmächtige, arme, reiche, Künstler, Politiker und echte Menschen. Und ich war in so vielen Orten. Zeit hab ich weder für Menschen noch Orte gehabt. Ich habe nur immer von kleinen Ausschnitten erzählen können und von den Dingen, die ich irgendwo gerne noch gemacht hätte oder was ich gerne noch gesagt hätte und noch viel lieber gehört hätte. Sie lacht als wir über den Ritt auf dem Elefanten reden, der in Nepal nicht möglich war und sie erinnert mich, wie stolz alle auf mich gewesen sind. Meine Familie, Freunde und so viele, die meinen mich zu kennen und die ich nicht kenne und denen ich nie begegnet bin. Oder vielleicht doch, wie kann ich das noch wissen nach der ganzen Zeit. Sie findet lustig, dass Joachims Sohn, Angie oder Another One Bites The Dust für heute Abend vorgeschlagen hat. Ich hätte mir auch was von den Beatles vorstellen können, aber ich bin ja aus dem Osten, den nicht mehr ganz neuen Bundesländern. Ein Lied von Frank Schöbel kennt man im Westen wohl nicht.
Jakob hatte am Abend mit dem Arzt gesprochen, der ihm mitgeteilt hatte, dass sein Vater wohl nicht mehr lange überhaupt laufen werden könne. Dass sich Karl an immer weniger erinnerte, wusste Jakob selbst. Karl hatte begonnen sein Leben zu vergessen, bevor er es abschließen konnte. Jakob erinnerte sich für ihn daran, dass Karl immer den Anspruch hatte, sein Lebensende so zu gestalten, dass er keine Belastung für Jakob war. Seine letzte eigene Chance dazu hatte Karl nicht mehr nutzen können. Doch sich daran zu erinnern half Jakob bei der Entscheidung für Karls Umzug. Und Jakob erinnerte sich daran, dass Karl noch einmal an die Ostsee wollte. Nach Ansicht des Arztes blieb dazu nicht mehr viel Zeit. Deshalb hatte sich Jakob letzte Woche frei genommen, ein Doppelzimmer in einem behindertengerechten Hotel in Timmendorfer Strand gebucht, Karl, seinen Rollstuhl und einen Koffer voller Windeln, die Karl inzwischen brauchte, in seinen Wagen gepackt und war mit ihm an die Küste gefahren. In der Nacht schrie Karl und schlief tagsüber meistens in seinem Rollstuhl. Der Hoteldirektor sprach Jakob schon nach der ersten Nacht auf die Ruhestörung an, empfahl nachmittags eine kleine Pension in der Nähe, die allerdings nur über Treppenstufen zu erreichen war und Jakob und Karl reisten nach der zweiten Nacht wieder ab.
Einmal, als Jakob Karl in seinem Rollstuhl auf die Seebrücke geschoben hatte und sie eine Weile in der Sonne den Möwen zugehört und dabei zugesehen hatten, wie sie immer wieder in die Dünung herab gesaust waren, um etwas Futter zu fangen, hatte Karl gesagt:
„Jakob, es ist so schön hier. Danke, dass Du Dich erinnert hast“, und war dann wieder eingeschlafen. Als der Wind Jakobs Tränen getrocknet hatte und Karl immer noch schlief, hatte Jakob ihn zurück ins Hotel geschoben. Karl wurde an dem Tag nur noch einmal kurz zum Abendessen wach und auch auf der Rückfahrt hatte er kaum mit Jakob gesprochen, der nach der Hälfte der Heimfahrt seine Versuche einstellte, ein Gespräch mit ihm zu führen.
Sie parkte ihren Wagen in einer engen Parklücke. Es würde schwer werden aus dem Wagen zu kommen. Sie blieb sitzen, schaute auf die weiße Villa, die so gar nicht nach einem Sanatorium aussah, eher wie eine großzügige Party-Location: das letzte Zuhause ihrer Großmutter. Zuhause, was für ein seltsames Wort. Es sollte mehr sein als ein Haus. Dieses Haus war zu. Alle Türen abgeschlossen, der Garten hoch umzäunt. Selbst Wünsche, die vermutlich die wenigsten Bewohner noch hatten, konnten nicht herausfliegen. Die Fenster abgeschlossen und die eigenen Ideen durch den geregelten Tagesablauf gelenkt.
Sie hing ihren Gedanken nach. Die Präsentation musste fertig, Fenster geputzt und eingekauft werden. Und sie musste endlich aussteigen. Sie zwängte sich durch den schmalen Spalt der ihr dazu blieb und atmete noch einmal tief durch, ehe sie auf die Eingangstür an der Rückseite des Hauses ging. Auch hinein kam man nicht ohne weiteres. Klingeln, warten, lange warten und sich dann erklären. Sie wollte ihre Großmutter sehen. Ja, sie war die Enkelin von Frau Müller oder das was noch von ihr übrig war.
Alle Selbstsicherheit war dahin als sie auf die alte Frau im Rollstuhl zuging, der einfach mitten in dem großen Raum stand. Ihre Großmutter hatte ihr den Rücken zugewandt, war inzwischen nicht mehr zu erkennen. Jemand entschied für sie welche Bluse sie trug, wie ihre Haare geschnitten und dass sie nicht mehr gefärbt wurden. Sie sah anders aus, als die Frau die sie so liebte und brauchte. An guten Tagen erkannte ihre Großmutter sie. „Hallo mein Schätzchen“ war zumindest so zu interpretieren.
Sie schob den Rollstuhl mit Ihrer Großmutter näher zu einem Sofa und setzte sich.
„Wie geht es Dir?“, war alles was ihr einfiel. Wie sollte ein Mensch der nicht wusste, was er gerade gegessen hat, das beantworten?
„Alles gelb!“ Alles gelb? „Gefällt Dir der Vorhang?“ „Ja. Das Hotel ist ganz Tomate. Wann fahren wir nach Hause?“ „Nach dem Abendessen“, sagte sie. „Was habt ihr denn heute gemacht?“ Ihre Großmutter antwortete nicht sondern schaute zu einer Mitbewohnerin, starrte sie an und es brach aus ihr heraus: „Die hat ja einen Arsch wie ein Brauereigaul!“ Anarchie im Gedankenknast – gut beobachtet und treffend formuliert.