Mein Großvater begann irgendwann, mir davon zu erzählen, wie es im Mittelalter im Rheinland gewesen war. Diese düsteren Geschichten müssen mich sehr früh erreicht haben, vermutlich mit vier oder fünf Jahren, denn ich war sechs, als er starb. So wurde ich ungewöhnlich jung zur Expertin für Hexenverbrennungen, Siechhäuser und den Umgang mit Leprösen. Mein Großvater muss auch ein guter Erzähler gewesen sein, denn ich war in einer Weise von seinen Schilderungen erfüllt, die meinen ahnungslosen Eltern nicht gefallen hätte.
„Zähl ein…und…zwan…zig, Kind, dann hast du eine Sekunde, in dieser Zeit stirbt irgendwo auf der Welt ein Mensch.“
Ich hatte Angst vor dem Tod, aber ich war auch sehr fasziniert, ästhetisch gab es nichts Interessanteres für mich. In jeder auf Reisen besuchten Kirche führte mich mein erster Weg in die Krypta, und sehenswert waren in meinen Augen allein Kirchen mit juwelengeschmückten Heiligenskeletten oder vergleichbar glamourösen Reliquien.
Dank meinem Großvater wusste ich im Kindergartenalter auch schon bestens über lebensbedrohliche Infektionen und Krankheiten Bescheid. So kam es, dass ich lange Jahre jeden Abend betete: „Lieber Gott, bitte mach, dass ich nicht Tollwut, Pest, Aussatz oder Wundstarrkrampf bekomme.“ Saß ich in der Badewanne, überlegte ich, ob das Wasser womöglich glühend heiß wäre und ich dies nur nicht spüren könnte, weil ich Lepra hatte. Ich stellte mir vor, wie mir die Nase abfiele oder ein Arm. Bei jedem noch so kleinen Kratzer dachte ich Wundstarrkrampf … Blutvergiftung … entsetzliche Schmerzen … Tod. – Sah man schon einen blauen Streifen meinen Arm entlanglaufen? – Dabei war ich gegen Tetanus geimpft. Aber wer wusste schon, wie verlässlich so ein Impfschutz war. Die Pest blieb merkwürdig opak in meinen Todesphantasien, war aber unverzichtbar in der Gebetskonstellation. Meine größte Angst aber war, im Wald einem zahmen Reh zu begegnen, denn ein nicht scheues Wildtier, so hatte mein Großvater mich gelehrt, sei mit höchster Wahrscheinlichkeit tollwütig. Und so wartete ich, während die damals noch überall in Europa zu findenden Tollwut-Warnschilder als Booster für meine Einbildungskraft wirkten, auf ein niedliches Reh mit Schaum vorm Mund, das mir den Garaus machen würde. Der Tollwuttod, das wusste ich, war der grässlichste, der qualvollste, der unausweichlichste aller Tode. „Kletter einfach schnell auf einen Baum“, hatte mein Großvater mir für den Ernstfall geraten, aber es war genau dieses „einfach“, das sich im Geiste gegen mich wandte, denn ich fürchtete, gar nicht schnell genug auf einen Baum klettern zu können.
Als mein Herz wuchs, schmerzte es gelegentlich, insbesondere in der Gegenwart von Weihrauch, wie ich es einmal auf einer Beerdigung erlebte, vermutlich bin ich allergisch dagegen. Natürlich interpretierte ich dieses Herzstechen als Anzeichen meines vorzeitigen Todes. Ergeben in mein Schicksal lag ich im großelterlichen Bett unter dem leicht nach vorne geneigten lebensgroßen Gekreuzigten und trauerte. Um mich, denn der Verlust würde meine Eltern hart treffen.
Ich war also im Alter von vier bis acht Jahren in ständiger Todesangst oder -gewissheit, allerdings ohne darüber je ein Wort zu verlieren. Weder redete ich über meine Angst vor Tollwut, Pest, Lepra und Wundstarrkrampf noch über die quälende Gewissheit, bald einen tragischen Herztod zu sterben. Dabei vertraute ich meinen Eltern, sie hätten mir in drei Minuten alle Ängste nehmen können. Ich weiß nicht, warum ich nichts sagte, ob es ein kindlicher Determinationsglaube war – Gottes Wille, traurig, aber nicht zu ändern – oder das bereits früh ausgeprägte Gefühl, allein klarzukommen.
Heute bin ich ein weitgehend angstfreier Mensch. Ich habe durch Nachdenken verstanden, dass meine Ängste Projektionen waren, weil zu viele virtuelle Bilder in meinem an RL-(Real Life)-Erfahrungen noch armen Kinderkopf waren. Außerdem kenne ich persönlich niemanden, der an Tollwut, Pest, Aussatz oder Wundstarrkrampf gestorben ist.
Aber da ist noch eine andere Sache, die ich erst später verstanden habe, es ist fast so, als hätte ich mir selbst etwas beigebracht: das Kind, das ich war der Mutter, die ich bin. Als meine Kinder und ich vor ein paar Jahren, sie waren damals ungefähr sieben und neun Jahre alt, abends im Dunkeln nach Hause gingen, fragte ich sie, ob sie vor irgendetwas Angst hätten. – Es sprudelte nur so aus ihnen heraus. Der Große hatte ein Bild von einer zertretenen Eidechse im Kopf, das ihn nicht mehr losließ und von einer Szene aus einem Harry-Potter-Film, den er heimlich angesehen hatte. Der Kleine berichtete von schrecklichen Alpträumen, in denen seinem Bruder von einem Oger der Kopf abgebissen wurde. Ich konnte ihnen diese Ängste teilweise oder ganz nehmen, indem ich ihnen erklärte, wie solche peinigenden Bilder entstehen und wie man sie rational bearbeiten kann. Seitdem frage ich meine Kinder regelmäßig nach ihren Ängsten, seitdem erzählen sie mir aber früher oder später auch selbst, wenn sie etwas ängstigt oder bedrückt.
Auch meine Eltern hätten einfach nur fragen müssen. Ohne von meinen Ängsten zu wissen. Das ist so paradox wie einfach.
Die Gralsfrage gibt es auch in Kindergrößen.
Danke, liebe Christiane für diesen interessanten und wichtigen Beitrag.
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