Wie gehen, wenn man gehen muss

der Reim zu versinken wäre ertrinken gewesen.
Aus: Günter Grass „Ein weites Feld“

„Das Thema ist ernst, ungewöhnlich ernst für mein Blog. Und es könnte schnell fehlgedeutet werden.“
So leitete ich im am 24. November 2019, dem Totensonntag, einen Blogtext ein. „Aber die Frage, wie man sterben möchte, wenn man sterben muss (was wir alle müssen), ist sicher jeder Leserin und jedem Leser bekannt. Und auch der Wunsch, sich das aussuchen zu können, was sich in den allermeisten Fällen aber so nicht realisieren lässt.“

Wie gehen, wenn man gehen muss - einfach losschwimmen?Auslöser für den damaligen Beitrag und im selbigen auch erwähnt war eine vorangegangene, digitale Diskussion mit der Berliner Bloggerin Stephanie Jaeckel, die ihrerseits über die ungarische Philosophin Agnes Heller einen Beitrag veröffentlicht hatte. Stephanie Jaeckel schrieb im Sommer 2019 einen Beitrag über den Tod der 90jährigen ungarischen Philosophin Agnes Heller, die Augenzeugenberichten einfach hinaus in den Plattensee geschwommen und nicht mehr zurückgekehrt ist. So zumindest berichtete im Juli 2019 die Neue Zürcher Zeitung. Weiterlesen

30.11. Corinne Dobler: Ist Selbstmord ok?

IMG_4974_2Ich schreibe diesen Blog zwar als Pfarrerin, mehr aber aufgrund der Erfahrung, die ich gemacht habe, als ich kürzlich eine Frau in den Freitod begleitete. Meine Sichtweise ist also eine nur meine ganz persönliche, die sich aufgrund dieser einzelnen Erfahrung verändert hat. 

Bisher hielt ich einen begleiteten Selbstmord in ausserordentlichen Fällen für „ok“: Wenn das Leiden grösser ist als der Lebenswille…welche andere Lösung kann es da noch geben? Doch nach der Begleitung dieser Frau bin ich mir da nicht mehr so sicher.  

Ich lernte sie in den letzten Wochen ihres Lebens kennen und bekam einen Einblick in ihr von körperlichen und psychischen Krankheiten geprägtes Dasein. Es gab nur noch Aussicht auf Verschlechterung, und darum verstand ich sie, als sie mir sagte: „Ich kann und will so nicht weiterleben. Ich will nicht als Pflegefall enden und wer weiss wie sterben müssen!“ Ich spürte aber bei meinen Besuchen, dass neben den unheilbaren Krankheiten noch mehr war, das sie quälte: Ihre Einsamkeit, ihr Gefühl nicht verstanden zu werden, misslungene Beziehungen zu ihren Mitmenschen und das Gefühl, keinen Nutzen mehr für diese Welt zu haben. Für sie war ihr Leben ein Leben in einer Sackgasse. Und der selbstgewählte Tod erschien ihr als Ausweg.  

Ich vermute, dass es letztlich ein Schamgefühl war, das ihren Todeswunsch nährte: Die Scham für ihre Bedürftigkeit, ihre Beziehungslosigkeit, ihr Angewiesensein auf andere. Sie konnte und wollte sich in dem Zustand, in dem sie sich befand, ihrer Umwelt nicht mehr zumuten.  

Falls meine Vermutung wirklich stimmt, kann ich dem Selbstmord als tolerierte Option in unserer Gesellschaft nicht mehr so einfach zustimmen. Bringt sich da nicht plötzlich jemand um, weil er selbst für untragbar, für unzumutbar hält? Scheidet er aus dem Leben, weil er sich schämt, sich seinen Mitmenschen so zu zeigen, wie er ist: Unselbständig, hilfsbedürftig und abhängig? Hat Hilfsbedürftigkeit in unserer Gesellschaft, welche die Autonomie des Einzelnen zum höchsten Gut erhoben hat, keine Berechtigung mehr?  Weiterlesen

19.11. Uwe Hauck: Wieso bringen sich so viele Depressive um?

uweNicht ganz einfach zu beantworten, da man dazu vermitteln können müsste, wie dunkel, wie hoffnungslos die pure Existenz für einen depressiven Menschen sein kann. Es fühlt sich nicht an wie der Winterblues oder die Trauer, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Es ist tiefer, dunkler, beängstigender.

Und es ist oft der einzige Ausweg, den man als Depressiver noch sieht, der letzte Punkt, an dem man selbst noch Kontrolle hat. Kontrolle über sein Leben, die man den Rest der Zeit längst an die Depression abgegeben hat.

Depressive Menschen wollen nicht tot sein. Sie wollen nur das Leben nicht mehr, das ihnen in dem Moment so viele Schmerzen bereitet. Und sie sehen in eben diesem Moment keinen anderen Weg mehr. Der Schmerz ist so groß geworden, dass er alles überlagert.

Ein depressiver Mensch will mit seinem Tod niemandem weh tun, im Gegenteil, in den allermeisten Fällen denkt er, dass alle um ihn herum ohne seine Existenz besser dran wären. Selbst wenn er eigene Kinder hat, eine Partnerin. Auch sie sind nach seinem Empfinden ohne ihn besser dran. Auch die, deren Versuch scheitert, wollten sich töten. Dieser dumme Spruch, das war doch nur ein Hilferuf entwertet die schwere ihrer Krankheit. Nein, es war kein Hilferuf, es war ein klares Zeichen, dass man nicht mehr kann, nicht mehr will, einfach nicht mehr die Kraft hat, weiter gegen den Dämon Depression zu kämpfen.

Es ist, trotz aller Verzweiflung ein durchaus schönes Gefühl, am nächsten Tag lebend aufzuwachen.

Aber nur kurz. Dann bereut man, dass man es nicht geschafft hat. Weil der Dämon schon vor der Tür wartet.

Herzlichen Dank und happy birthday an Uwe Hauck, www.livingthefuture.de. 

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Buchtipp: Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf

DownloadedFile-15Nach einer Buchbesprechung in der FAZ habe ich meinem Mann und mir das Buch von Wolfgang Herrndorf geschenkt (Weihnachten 2013). Ich habe begonnen es zu lesen: die ersten Seiten und das Ende mit den anschließenden Fragmenten und Anmerkungen. Man möge mir verzeihen, aber ich war zu neugierig. Jetzt lese ich entspannt zwischendrin weiter.

Nach der Krebsdiagnose hat Wolfgang Herrndorf begonnen über seine Situation im Blog zu schreiben. 3 Jahre hatte er Zeit. Wir lesen seine Gedanken zur Krankheit und wie er es schafft, zwei Bücher auf den Markt zu bringen. Das eine avancierte 2010 zum Überraschungserfolg des Jahres: Tschick.

Aber sein „eigentliches Hauptwerk“ war sein Tagebuchblog:  «Arbeit und Struktur», so Felicitas von Lovenberg in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Der erste Eintrag beginnt am 8.3.2010 und endet am 20.8.2013. Gestorben ist er am 26.8.2013 – er hat sich selbst erschossen „so wie es zu machen ist.“

Hätte er „nur“ Prostatakrebs oder Schnupfen gehabt, hätte er diesen Blog nicht begonnen. Er hatte „was Status betrifft“ sarkastisch zur Kenntnis genommen, dass „Hirntumor“ (im Nachwort geschrieben von Markus Gärtner und Kathrin Passig) -natürlich der Mercedes unter den Krankheiten ist und die Diagnose „Glioblastom“ der Rolls-Royce.

Sehr berührend, sehr ehrlich, sehr „normal“, sehr authentisch .. LESENSWERT!

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Buchtipp: Der Junge muss an die frische Luft. Hape Kerkeling.

DownloadedFile-2Auch dieses Buch habe ich in einer FAZ-Buchbesprechung entdeckt. Alle kennen sein Buch „Ich bin dann mal weg“.

Sein Buch „Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich“ erschien im Oktober 2014.

Hier lernen wir Hape Kerkeling von einer ganz anderen Seite kennen. Er schreibt über seine Kindheit, die überschattet ist vom  Selbstmord seiner Mutter. Schon früh lernte er, sie aufzuheitern, weil sie depressiv war … seine Oma sagte vom Sterbebett zu ihm: „Du wirst mal etwas Großes. Du wirst andere zum Lachen bringen“ … das war sozusagen sein „Überlebensmodus“ – andere zu amüsieren.

Lesen Sie bei Kulturradio vom rbb:„Weil es dem kleinen Knirps schon gelungen ist, mit seinen Scherzen, Parodien und Liedern die auf ihrem Küchenstuhl hockende und ins Nichts starrende Mutter gelegentlich aus ihrer Depression aufzuwecken und zum Lachen zu bringen, beschließt er, Schauspieler und Entertainer zu werden und das Leben, das doch nur am seidenen Faden hängt und jederzeit bedroht ist, von der komischen Seite zu nehmen und dem Tod frech ins Gesicht zu lachen“. 

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