Heimspiel, der Film.

„komm ruff wir haben Platz für dich“
„ich will sterben ohne Fiesimatenten, der Tod ist da und ich bin nicht mehr zu haben“ … so sprachen im Film die Alten im Alten- und Pflegeheim, den ich euch heute vorstellen mag. Denn es kam so:

Zuerst lernte ich Juliane kennen letztes Jahr in Dessau. Sie schreibt seitdem regelmäßig hier im Blog mit. Dann lernte ich auf einem Lesefest im Februar Margarete kennen, die ich als Gastautorin eingeladen habe, ihren Text hier bei uns zu veröffentlichen. Mit Juliane war ich im Mai im Theater – es lief MacBeth – und traf zufällig Margarete und lernte Margarete (Nummer 2) kennen. Künstlerin. Filmemacherin. Projektweise war sie Sterbebegleiterin. Es entstand dieser 16-mm-Film, der anlässlich der Frankfurter Palliativtage in 2013 gezeigt wurde.

Sehr berührend und bewegend … grundehrlich. Nimm Dir Zeit und guck.

Von Margarete Rabow, Ihre Website und Link zum Film:
https://margarete-rabow.de/heimspiel-film/

Fotoarbeiten zum Film: https://margarete-rabow.de/heimspiel-fotoarbeiten-zum-film/

Über Scherben laufen (Teil 1)

Er steigt auf den Stuhl und schiebt die Nase bis zur Scheibe nach vorn. Das Kinn liegt dabei auf dem schmalen Fensterbrett und wenn er den Kopf ein wenig nach hinten neigt, kann er den Himmel und die Baumkronen hinter der Mauer über den Stacheldraht hinweg sehen und auch das Gitter zerschneidet den Blick nicht. Im Gang wird der Wagen, mit dem das Geschirr eingesammelt wird, über den unebenen Boden geschoben und die Löffel klappern auf den unzerbrechlichen Tellern. Er trägt noch den Anzug, der einmal sein Glücksanzug war, seine Krawatte hat er wieder abgeben müssen. Die rechte Hand ist verbunden und er spürt den Schmerz nun wieder stärker pochen, nachdem die lokale Anästhesie langsam ihre Wirkung verliert, die ihm verabreicht wurde, um die tiefsten Schnitte zu nähen. Noch mehr Narben.

Als er nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder alleine vor einem richtigen Spiegel stand und sich in die Augen sah, konnte er den Anblick nicht ertragen. Ihm war die Hand ausgerutscht, die zusammengeballte Hand. Der Spiegel konnte dem Schlag nicht widerstehen. Wieso hatte er nicht daran gedacht, eine der Scherben einzustecken? Einer seiner Kollegen brachte ihn auf Anweisung in die Notaufnahme. Die Schnitte wurden genäht und die Hand anschließend verbunden. Der Anzug hatte außer einem kleinen Blutfleck an der Unterseite der rechten Manschette nichts abbekommen. Er hatte ihm immer Glück gebracht, wenn er ihn trug. Bis zu dem Tag als eine Richterin und die beiden Schöffen ihm nicht glaubten und ihn für dreieinhalb Jahre hierher schickten. Nach zwei Dritteln der Zeit darf er nun tagsüber die Haftanstalt verlassen und arbeiten. Nicht in seinem Beruf. Seine alte Stelle ist längst wieder besetzt und eine Chance haben ihm nur wenige geben wollen. Genau genommen nur einer. Er hatte die Buchhaltung des kleinen Kurierdienstes und vielleicht nach der Einarbeitung auch die Dienstpläne machen sollen. Das war der ursprüngliche Plan. Als er blutend mit dem Kollegen vom Hof fuhr, rief man ihm hinterher, dass er morgen nicht und auch überhaupt nicht wiederkommen müsse.

Vor Gericht beteuerte er, dass er das alles nicht gewollt hatte und es ihm aufrichtig leid tue, was passiert sei. Sie glaubten ihm nicht. Nur seinem Geständnis, zu dem ihm sein Anwalt riet. Bis zu dem Tag, der zu seiner Verurteilung führte, waren nur gute Dinge passiert, wenn er den Anzug trug. Er war seine Rüstung gewesen. In ihm hatte er Eindruck machen und sich verstecken können. Er trug ihn, als er das letzte Mal befördert wurde. Und als er den neuen Dienstwagen abholte. Er trug ihn auch, als er Karina kennenlernte. Karina, die immer ein wenig zu laut, immer etwas zu spät und immer an den falschen Stellen lachte. Doch nie über ihn. Nur über seine Scherze und mit ihm, selbst wenn sie nicht verstand, worüber er sich amüsierte. Auch bei der Beerdigung seiner Mutter hatte er den Anzug an und bei seinen Gerichtsverhandlungen. Es ist offensichtlich, dass es sein Anzug ist, kein geliehener. Dass er ihn schon oft getragen hat und nicht nur, weil man das vor Gericht oder bei einer Trauerfeier eben tut. Er saß einmal so gut, als sei er für ihn gemacht worden, auch wenn er das nicht war. Er war nicht von einem Maßschneider für ihn geschneidert, doch passgenau geändert worden, ehe seine Sekretärin ihn in einem schwarzen Kleidersack mit der Aufschrift der Schneiderei für ihn abholte. Die Verpflegung während der Haft ist ungenießbar, weshalb er etwas abgenommen hat und der Anzug nun nicht mehr ganz so gut sitzt. Bis zu seinem Haftantritt trug er ihn immer mit teuren Krawatten und dazu passenden Einstecktüchern. Die Richterin und Schöffen konnte er damit nicht beeindrucken. Eine Krawatte liegt jetzt in seiner Kiste, in die er fast alle persönlichen Gegenstände legen musste, bevor er zum ersten Mal eingeschlossen wurde. Heute vor achthundertzweiundfünfzig Tagen.

(Die Geschichte wird fortgesetzt und kann auch auf https://einundzwanziguhr.blogspot.com/2022/11/uber-scherben-laufen-1.html jeweils zusammenhängend bis zum jeweiligen Veröffentlichungsstand gelesen werden)

Was 21 Gramm wiegt – und was nicht

Menschen, die öfter lange Briefe geschrieben oder Rechnungen mit der Post verschickt haben, wissen das: Ein normales Blatt Kopier-/Druckerpapier wiegt etwa 4,99g. Also wiegen vier Blätter knapp 20g, was, wenn man den Umschlag hinzugerechnet, das Porto über einen Schwellwert steigen lässt.

Und dann ist da noch die Seele. Die wiegt 21 Gramm. So jedenfalls dachte sich der amerikanische Arzt Duncan MacDougall (1866-1920) das, denn das hatte er bewiesen.
Dazu hatte er im frühen 20. Jahrhundert ein heute eher sonderbar anmutendes Experiment veranstaltet:
Er legte Menschen auf die Waage, die kurz davor waren zu sterben und beobachtete, ob sich das Gewicht direkt beim Übertritt in den Tod. Und nicht er allein – als Zeuge seiner Untersuchungen sammelte er ein Kollegium um sich.
Tatsächlich fand MacDougall einige „Probanten“ in einem Tuberkulosekrankenhaus, die dafür bereit waren und machte eine Reihe an Versuchen.
Wie er darauf gekommen war?

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Luftschlangen

An diesem Tag habe ich vielleicht unter dem Tisch gesessen. Vielleicht ist es auch ein Abend gewesen und vielleicht bin ich auch oben auf der Treppe gewesen, weil ich schon ins Bett gebracht worden bin und schlafen sollte. Bestimmt haben sie auch mal gelacht an dem Tag oder Abend. Nur auf dem Foto nicht, das an der Pressspanwand herunter rutscht, als ich die Regalböden leere von dem sie mich jetzt ansehen. Alle, nur sie nicht. Sie sieht am wenigsten froh aus. Bei den anderen könnten die Luftschlangen und der Alkohol gewirkt haben, bei ihr nicht. Dafür haben bei ihr die Zigaretten den weitreichendsten Effekt gehabt. Sie hat früh alt ausgesehen und ist auch als erste gestorben. Auf den Fotos sieht sie aus, als hätte sie das schon damals nicht verstanden und ungerecht gefunden. Sie ist die einzige, die in eine andere Richtung schaut, oder wie ich lange geglaubt habe, jedenfalls nicht mich ansieht. An dem Tag oder Abend, unter dem Tisch oder oben an der Treppe, habe ich sie auch nicht wirklich gesehen, alle nicht. Doch gehört, reden, lachen, diskutieren, die Gläser haben geklirrt und sind auf der Marmorplatte des niedrigen Couchtischs, unter den ich damals gepasst habe, abgestellt und hin und her geschoben worden, das Rädchen der Einwegfeuerzeuge, die Korken der Wein und Weinbrandflaschen und das scheinbar genüssliche Ein- und Ausatmen beim Rauchen. Ich meine all das heute noch zu hören und die dicke Luft zu riechen, die 8×4 und Grüner Apfel Shampoo im Laufe des Abends aus dem Wohnzimmer mit der niedrigen Kassettendecke vertrieben hat. Was ich gedacht oder gefühlt habe, weiß ich nicht mehr. Ganz sicher etwas ganz anderes als jetzt gerade, wo ich weiß, was ich weiß und ahnen hab’ ich das nicht können, oder hab’ ich? Jetzt würde ich ihr wünschen, noch da zu sein. Und dass sie an dem Tag oder Abend mehr Spaß gehabt hätte, sie auch eine Luftschlange um den Hals oder auf der Frisur gehabt hätte, ihr das nicht zu albern gewesen wäre und der Alkohol und die Zigaretten nicht notwendig für eine Sause. Dass sie ein Bild oder eine Fototapete auf die leicht vergilbte Wand geklebt und vielleicht andere oder mehr Freunde gehabt hätte, mehr jedenfalls als auf dem Foto oder als zu ihrer Beerdigung gekommen sind. Ob sie auch all das bedauert hat und wenn nicht, was dann, hab’ ich sie nie gefragt. Vielleicht ist alles so gut für sie gewesen. Es hat sich ja gut angehört an dem Tag oder Abend für mich. Doch heute sieht es nicht mehr gut aus. Ich lege das Foto zu den Büchern und den kitschigen Glasfiguren, die ich ausräume und die sie irgendwann begonnen hatte zu sammeln, bis zwei Regalböden voll damit gewesen sind und sie zu sammeln aufgehört hat und sie mit großer Regelmäßigkeit und Hingabe abgestaubt hat. Sogar Staubtücher die ausschließlich für die dünn geblasenen Schwäne, Ponys, Kätzchen und Spatzen verwendet worden sind, hat sie angeschafft. Alles liegt jetzt in den Kisten, die unter und auf dem Couchtisch stehen und morgen abgeholt werden.

100 Songs: Sarah Connor – Das Leben ist schön (2015)

Ein heißer Sommertag im August 2022. Einige Menschen in dunkler, so ganz und gar dem Wetter unangepasster Kleidung steigen aus der U-Bahn Implerstraße in München-Sendling. Allein oder zu zweit folgen sie der Straße, biegen ab, auf dem Vorplatz der Sendlinger Himmelfahrtskirche gesellen sie sich zu anderen, die dort bereits warten. Einer davon ich. Wir begrüßen einander: Ehemalige Kollegen, Bekannte, Fremde. Es gilt Abschied zu nehmen von einem Kollegen mit dem ich zwanzig Jahre zusammengearbeitet habe. Zeitweilig haben wir Tür an Tür gesessen, viele Mittagspausen miteinander verbracht, auch Geschäftsreisen. 2019 ging er in Rente, 2022, nur drei Jahre danach, erreichte uns die Todesnachricht. Während der sehr emotionalen und sehr schön gestalteten Trauerfeier greift die Tochter ihre Gitarre und stimmt ein Lied von Sarah Connor an.

Mit ruhiger Stimme singt die junge Frau ein Lied, gefasst, zumindest in diesem Augenblick, für viele Trauergäste ist das der wohl ergreifendste, emotionalste Moment des Gottesdienstes.
Während die Tochter Zeile um Zeile von ihrem Vater Abschied nimmt und ihn auf ganz wunderbare Weise würdigt, schnürt es vielen von uns (noch einmal) das Herz zusammen. Weiterlesen

Krieg im Kopf

Deine Katze läuft die Treppe hinauf. Seit Tagen hat sie neben Dir gesessen. Jetzt ist es ganz ruhig draußen und sie will hinaus. Du gehst ihr nach. Sie sitzt jetzt im Garten und der Hund des Nachbarn bellt unter dem Zaun hindurch, seine Kiefer öffnen sich regelmäßig. Ganz still. Du schaust Dich um. Der Ton ist abgeschaltet. Wie den Hund hörst Du die Flugzeuge nur in Deinem Kopf. Dort hinten ist eine Explosion-in Deinem Kopf. Am Horizont steigt eine Rauchwolke auf. Du siehst Menschen, die auf dem Bürgersteig liegen. Kein Laut. Du riechst Angst. Riechst Dich selbst, weil Du Dich in Deinem Keller nicht waschen kannst, keine Kleider zum Wechseln mitgenommen hast. Ein Mann der vorbei läuft winkt und ruft etwas. Du verstehst ihn nicht, doch er riecht wie Du, nach Keller und Agonie.

Du folgst ihm langsam, gehst an den Leuten vorbei, die dort liegen. Riechst ihre Wunden, Blut und das Treibladungsmittel, das die Geschosse in sie getrieben hat, verbrannte Kleidung und Haut. Und Du witterst den Rauch der Explosionen, die in der Ferne noch zu sehen sind und die, die vor einigen Stunden Häuser, Bäume, Fahrzeuge zerstört haben. Den Staub, der sich nur langsam setzt. Benzin und Holzfeuer, die jemand angemacht hat, damit Du und die anderen sich aufwärmen können. Und löslichen Kaffee. Du trinkst ihn, als Du ihn angeboten bekommst, um kurz nichts anderes riechen zu müssen. Um so tun zu können, als wäre es nur irgendein Morgen und nicht einer, an dem es vielleicht kein Morgen mehr gibt. Du siehst viele schweigen und manche reden. Riechst ihre Wut, wenn sie in Rage kommen, Schweiß, den Atem der vergangenen Nächte, sauer, abgestanden und immer wieder aufgewärmt. Kein Laut, doch unzählige Gerüche und Gestank, unerträglich wie die verstummten Schreie, der Krieg in Deinem Kopf. 

Zwischen den Jahren ein Buchtipp: Das Lebensende und ich

Ich hätte fast geschrieben: Das Jahresende und ich. Geht es Dir wie mir? Dann reflektierst Du über das vergangene Jahr, beantwortest dir ein paar Fragen, hältst inne …

… bevor das Neue Jahr beginnt.

Ist das Jahresende wie ein Lebensende? Die Fragen, die wir uns am Jahresende stellen, sind sie ähnlich wie am Lebensende? Mal sehen was ich im Buch entdecke.

Es hat jedenfalls keine Seitenzahlen und auch kein Inhaltsverzeichnis. Es ist kreativ gestaltet, schöne Fotos sind drin, es hat eine schöne Haptik durch das dickere Papier. Wir finden leere Seiten für eigene Notizen. Ich habe mir schwer getan etwas zum Buch zu schreiben und heute erscheint mir der passende ZEITPUNKT.

Ich erkenne folgende Fragen und Abschnitte beim Blättern:

Vorwort: Das Lebensende ist so viel mehr, als zu sterben
Frage: Warum haben wir solche Angst vor dem Sterben?
Die Angst vor dem Leiden
Die Angst vor der Lebensbilanz
Die Angst vor dem endgültigen Aus

Die Frage: Was kommt am Lebensende auf mich zu?
Die Zeit vor dem Sterben
Die Zeit während des Sterbens
Und was kommt nach dem Sterben?

Die Frage: Was kann ich selbst gegen die Angst tun?

Nachfolgend ein paar Fragen und Sätze, die ich während des Blätterns „aufschnappte“.
Es gibt eine Vielzahl an Tipps und Anregungen, manchmal nur in einem Satz geschrieben, maximal eine Seite lang. Für jeden ist etwas dabei, man bleibt an dem hängen, was einem gerade wichtig ist. Das ist heute mein Fokus :

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100 Songs: Stephan Sulke – Heut‘ seid ihr alle eingeladen… (1979)

Stephan Sulke war immer so etwas wie ein Außenseiter und gleichzeitig einer, der sich nur schwer in irgendeine Kategorie stecken ließ. War er Liedermacher? Chansonnier, Schlagersänger?
Und überhaupt: Gibt es den überhaupt noch?
Ja, es gibt ihn noch, oder wieder. Zumindest gibt es eine offizielle Webseite von ihm, die – auch wenn ohne aktuelle Termine – ziemlich aktuell ist. Gelegentlich erscheint ein Tonträger von ihm, mittlerweile steht er kurz vor seinem 80ten Geburtstag. Den Höhepunkt seiner Karriere hatte er in den frühen 80ern, als die Liedermacher eine besonders gewichtige Rolle in der deutschen Populärmusik einnahmen. Aber so richtig gehörte er nie dazu – dazu war er nicht politisch genug, vielleicht ein wenig zu melancholisch, zu sentimental, zu nah am Schlager, zu oft auch in der Playlist der großen Radiosender, die Sulke spielten, aber nicht Wader oder Wecker. Vielleicht auch hatten die größten Erfolge Der Mann aus Russland und vor alle Uschi zu wenig Tiefgang, vor allem zweitgenannter Titel rückte ihn fast in die Ecke der klamaukigen Interpreten.
Der Mann aus Russland – soweit noch als Randbemerkung – hört sich über 40 Jahre nach seiner Entstehung befremdlich und kolossal naiv an. Und falsch noch dazu, weil Kiew und Minsk, von denen der besungene Mann als Stätten seiner Heimat so schwärmt, gar nicht zu Russland gehören.
Schlagersänger war Sukle aber auch nicht – zu düster teilweise die Texte, zu wenig Frohsinn.
„Meine Musik war immer eine Mischung aus Sarkasmus, Melancholie und etwas Blödelei“ charakterisierte er sein Schaffen einst in einem Interview.
Und so pendelte der Mann mit der überaus weichen, sanften Stimme zwischen den Genres, gewann das Herz vor allem weiblicher Fans wegen dieser Sanftheit und Einfühlsamkeit – und nicht zuletzt wegen eines sehr eigentümlichen Gesangstils, zwischen einzelnen Wörtern ganz kurze Pausen zu machen. Die waren nie so lang, dass sie den Takt gestört hätten, aber nie so kurz, dass man sie nicht bemerkt hätte – vor allem aber waren sie immer dort platziert, wo man sie nicht erwartet hätte; zumeist mitten in der Zeile. Das verschaffte der Musik einen Anstrich von Nachdenklichkeit, so als sinniere der Sänger darüber, ob er wohl die richtigen Worte gewählt habe, die er gleich ins Mikro singen würde.

1979 veröffentlichte Sulke seine vierte LP, die einfach nur seinen Namen Stephan Sulke 4. Darauf enthalten ist das Lied Heut seid ihr alle eingeladen.

Gibt es ein besseres Beispiel, um zu zeigen: Das ist nicht Schlager?
Wenn sich einer von seinen Feinden wie den Kameraden verabschiedet, sagt, er wäre gern noch geblieben, verlasse aber nun das Jammertal, dann ist – auch wenn es nicht explizit so gesagt wird – von einem Abschied auf Immer die Rede. Und damit ist mitnichten ein Ortsteil Solingens gemeint, der tatsächlich Jammertal heißt, sondern ganz der christlichen Tradition folgend das irdische Leben allgemein.
Wie Reinhard Meys Wie ein Baum, den man fällt war auch Sulke in den Dreißigern, als er das Lied schrieb und sang. Es erschien fünf Jahre nach Meys Gedanken zum Sterben. Das Thema lag wohl in der Luft.

Hier der Text:

Heut seid ihr alle eingeladen,
Wo seid ihr nur so lang geblieben?
Die Feinde und die Kameraden,
Mein Leben habt doch ihr geschrieben.

Heut seid ihr alle eingeladen,
Mir scheint ihr wollt schon von mir eilen.
Ihr zieht davon so wie Nomaden,
Wollt ihr nicht noch etwas verweilen.

Und ihr sollt froh sein,
Ich verlass das Jammertal.
Nur die Straßen und die Felder
Und die Städte und die Wälder
Und euch alle seh ich gern noch tausend Mal.

Heut seid ihr alle eingeladen,
Heut weckt der Frühling seinen Flieder.
Erzählt mir nochmals die Balladen,
Und singt mir nochmals meine Lieder.

Und ihr sollt froh sein,
Drüben sei ein besseres Land,
Nur die Schläge und die Kriege
Und die Zweifel und die Siege
Und die Hoffnung hab ich alle gern gekannt.

Heut seid ihr alle eingeladen,
Ich hab euch lang bei mir getragen,
Doch langsam reißt der letzte Faden,
Und ich hätt noch so viel zu fragen.

Heut seid ihr alle eingeladen …

Karl

AUGUST

Jakob hatte am Abend mit dem Arzt gesprochen, der ihm mitgeteilt hatte, dass sein Vater wohl nicht mehr lange überhaupt laufen werden könne. Dass sich Karl an immer weniger erinnerte, wusste Jakob selbst. Karl hatte begonnen sein Leben zu vergessen, bevor er es abschließen konnte. Jakob erinnerte sich für ihn daran, dass Karl immer den Anspruch hatte, sein Lebensende so zu gestalten, dass er keine Belastung für Jakob war. Seine letzte eigene Chance dazu hatte Karl nicht mehr nutzen können. Doch sich daran zu erinnern half Jakob bei der Entscheidung für Karls Umzug. Und Jakob erinnerte sich daran, dass Karl noch einmal an die Ostsee wollte. Nach Ansicht des Arztes blieb dazu nicht mehr viel Zeit. Deshalb hatte sich Jakob letzte Woche frei genommen, ein Doppelzimmer in einem behindertengerechten Hotel in Timmendorfer Strand gebucht, Karl, seinen Rollstuhl und einen Koffer voller Windeln, die Karl inzwischen brauchte, in seinen Wagen gepackt und war mit ihm an die Küste gefahren. In der Nacht schrie Karl und schlief tagsüber meistens in seinem Rollstuhl. Der Hoteldirektor sprach Jakob schon nach der ersten Nacht auf die Ruhestörung an, empfahl nachmittags eine kleine Pension in der Nähe, die allerdings nur über Treppenstufen zu erreichen war und Jakob und Karl reisten nach der zweiten Nacht wieder ab.

Einmal, als Jakob Karl in seinem Rollstuhl auf die Seebrücke geschoben hatte und sie eine Weile in der Sonne den Möwen zugehört und dabei zugesehen hatten, wie sie immer wieder in die Dünung herab gesaust waren, um etwas Futter zu fangen, hatte Karl gesagt:

„Jakob, es ist so schön hier. Danke, dass Du Dich erinnert hast“, und war dann wieder eingeschlafen. Als der Wind Jakobs Tränen getrocknet hatte und Karl immer noch schlief, hatte Jakob ihn zurück ins Hotel geschoben. Karl wurde an dem Tag nur noch einmal kurz zum Abendessen wach und auch auf der Rückfahrt hatte er kaum mit Jakob gesprochen, der nach der Hälfte der Heimfahrt seine Versuche einstellte, ein Gespräch mit ihm zu führen.

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Lesetipp: Vom Leben getragen

Ich freue mich, dass mich der Mabuse-Verlag auf dieses Buch aufmerksam gemacht hat. Im Vorwort „Mit unserer Liebe für die Toten“ steht: In kaum einem anderen Land Europas ist der Tod so ein Tabuthema, so angstbesetzt und so ins schwermütige Dunkel verdrängt wie hier. Das Glück, eine große Gemeinschaft um sich zu haben, die unterstützt und mitträgt, einander den Rücken freihält für das Wesentliche und tatkräftig mit begleitet, ist bis heute für die meisten Menschen, nicht nur in schweren Situationen, die Ausnahme.

Der Bestatterin ist der liebevolle Schutz für verstorbene Frauen und Kinder ein besonderes Herzensanliegen.

Das Buch wird hier auf der Seite des Verlags vorgestellt.

Die Autorin Ajana Holz ist Bestatterin mit Leib und Seele. Mit ihrem bundesweit mobilen Bestattungsunternehmen DIE BARKE begleitet sie seit über 20 Jahren die Toten in ihrem Übergang und die Lebenden beim Abschied und in ihrer Trauer. In diesem Buch widmet sie sich den vielen tabuisierten Themen rund um Tod und Bestattung.

Wie gehen wir als Gesellschaft mit unseren Toten um oder: Welchen Umgang lassen wir zu? Ist unser Körper „nur eine Hülle“? Und welche Folgen hat diese Annahme? Was ist alles bei einer Bestattung zu bedenken, was ist erlaubt und was nicht? Und was sollte sich daran ändern? Wie war unsere Bestattungskultur früher? Wie ist der professionelle Umgang heute?

Das Buch ist in folgende Kapitel aufgeteilt:

Mit unserer Liebe für die Toten …

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