Die Kraft der Poesie sollte man nicht unterschätzen. Manchmal genügen schon wenige Worte und man ist ihrer Macht restlos ausgeliefert. Mir ging es kürzlich so, als ich die ersten zwei Sätze eines Märchens aus den Dolomiten las:
Der Hirte vom Monte Cristallo
„Auf dem rosaroten Monte Cristallo, wo jetzt nur furchtbare Steilwände und vereiste Kare zu sehen sind, stand einst ein stolzes Königsschloss. Seine Türme und Zinnen erhoben sich herrlich über dem Tale und grüßten sonnenfroh hinüber bis zu den Schneegipfeln der Marmolèda.“
In diesem Märchen geht es um eine Prinzessin, die ihren zahlreichen Freiern eine vermeintlich unerfüllbare Aufgabe stellt. „Sie verlangte, dass man ihr eine Geschichte erzähle, die sie selbst beträfe, die ihr aber unbekannt sei und die sie dennoch glauben müsse“.
Wie der Name des Märchens bereits verrät, gibt es einen Bewerber, der diese Bedingungen zur großen Verwunderung aller, erfüllen kann und so gibt es schließlich ein gutes Ende: „Die Prinzessin aber lächelte und streckte dem Hirten die Hand entgegen.“
Der Nachhall dieses Märchens in meinem Kopf hielt sich viele Tage lang. Ich dachte über die Geschichte nach, welche der Hirte Bartóldo der Prinzessin erzählt hatte und damit ihr Herz gewann, ein „stolzes Schloss und ein weites Reich dazu“. Seine Geschichte erzählt vom Jenseits, „den Gefilden der Seligen“. Was mich besonders fasziniert, ist die Erwähnung der Gefahr, welche in der überwältigenden Erfahrung der Gesamtheit diesseitigen und jenseitigen Lebens liegen kann: „er ist ein Dichter geworden, der in den Wäldern umherirrt und Lieder macht“ und der gleichzeitigen Möglichkeit, „Alles“ zu gewinnen, was in einem Menschenleben als erstrebenswert gilt, nämlich Liebe, ein stolzes Schloss und ein weites Reich. Bereitet Bartóldo’s „Verrücktheit“ erst den Weg dafür, dass er „Alles“ gewinnen kann?
Das Märchen ist eine wunderschöne Liebesgeschichte. Sie beschreibt, wie sich Zwei finden, die zusammengehören- und die sich wahrscheinlich schon früher, wer weiß wo begegnet sind und somit einander kennen.
Nun gibt es, neben den Liebesgeschichten im Leben auch noch andere, mitunter alltägliche Begegnungen mit Menschen, die einem das Gefühl vermitteln: Wir kennen uns bereits, wir sind uns vertraut. Man muss mit einem Mal nur wenig erklären und versteht sich ohne viele Worte. Eine Freundin, die ich erst vor kurzem kenngelernt habe, sann über diesen Zustand immer wieder mal nach, indem sie fragte, ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme, mit deiner Anwesenheit beschenkt zu werden. Das hat mich sehr gerührt, denn ich hatte ihre Anwesenheit in meinem Leben als ein viel größeres Geschenk betrachtet. Wir sind nicht mehr dazu gekommen, das zu tun, was wir uns zu tun vorgenommen hatten- gemeinsam zu singen- denn kurz nachdem wir uns kennengelernt haben, ist sie sehr krank geworden und sieben Monate später gestorben.
Ich war sehr, sehr traurig, ja.
Gibt es Trauer eigentlich in der Mehrzahl? Diese Frage wuchs in meinem Inneren in den ersten Tagen nach dem Tod meiner lieben Freundin. Jeder Tod von Menschen, die ich einst sehr lieb hatte, kam mir wieder in den Sinn. Das waren schon viele. Die meisten Menschen in meinem Alter kennen diese Erfahrungen. Der Tod eines geliebten Menschen ist manchmal so schlimm, dass man meint, nicht darüber hinwegzukommen.
Wenn man es schafft, darüber hinwegzukommen, kann die Trauer trotzdem noch so tief sein, dass diese Tiefe geradezu unendlich erscheint.
Diesmal ist es jene Art von Trauer, die Weiterlesen