Über Scherben laufen (Teil 1)

Er steigt auf den Stuhl und schiebt die Nase bis zur Scheibe nach vorn. Das Kinn liegt dabei auf dem schmalen Fensterbrett und wenn er den Kopf ein wenig nach hinten neigt, kann er den Himmel und die Baumkronen hinter der Mauer über den Stacheldraht hinweg sehen und auch das Gitter zerschneidet den Blick nicht. Im Gang wird der Wagen, mit dem das Geschirr eingesammelt wird, über den unebenen Boden geschoben und die Löffel klappern auf den unzerbrechlichen Tellern. Er trägt noch den Anzug, der einmal sein Glücksanzug war, seine Krawatte hat er wieder abgeben müssen. Die rechte Hand ist verbunden und er spürt den Schmerz nun wieder stärker pochen, nachdem die lokale Anästhesie langsam ihre Wirkung verliert, die ihm verabreicht wurde, um die tiefsten Schnitte zu nähen. Noch mehr Narben.

Als er nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder alleine vor einem richtigen Spiegel stand und sich in die Augen sah, konnte er den Anblick nicht ertragen. Ihm war die Hand ausgerutscht, die zusammengeballte Hand. Der Spiegel konnte dem Schlag nicht widerstehen. Wieso hatte er nicht daran gedacht, eine der Scherben einzustecken? Einer seiner Kollegen brachte ihn auf Anweisung in die Notaufnahme. Die Schnitte wurden genäht und die Hand anschließend verbunden. Der Anzug hatte außer einem kleinen Blutfleck an der Unterseite der rechten Manschette nichts abbekommen. Er hatte ihm immer Glück gebracht, wenn er ihn trug. Bis zu dem Tag als eine Richterin und die beiden Schöffen ihm nicht glaubten und ihn für dreieinhalb Jahre hierher schickten. Nach zwei Dritteln der Zeit darf er nun tagsüber die Haftanstalt verlassen und arbeiten. Nicht in seinem Beruf. Seine alte Stelle ist längst wieder besetzt und eine Chance haben ihm nur wenige geben wollen. Genau genommen nur einer. Er hatte die Buchhaltung des kleinen Kurierdienstes und vielleicht nach der Einarbeitung auch die Dienstpläne machen sollen. Das war der ursprüngliche Plan. Als er blutend mit dem Kollegen vom Hof fuhr, rief man ihm hinterher, dass er morgen nicht und auch überhaupt nicht wiederkommen müsse.

Vor Gericht beteuerte er, dass er das alles nicht gewollt hatte und es ihm aufrichtig leid tue, was passiert sei. Sie glaubten ihm nicht. Nur seinem Geständnis, zu dem ihm sein Anwalt riet. Bis zu dem Tag, der zu seiner Verurteilung führte, waren nur gute Dinge passiert, wenn er den Anzug trug. Er war seine Rüstung gewesen. In ihm hatte er Eindruck machen und sich verstecken können. Er trug ihn, als er das letzte Mal befördert wurde. Und als er den neuen Dienstwagen abholte. Er trug ihn auch, als er Karina kennenlernte. Karina, die immer ein wenig zu laut, immer etwas zu spät und immer an den falschen Stellen lachte. Doch nie über ihn. Nur über seine Scherze und mit ihm, selbst wenn sie nicht verstand, worüber er sich amüsierte. Auch bei der Beerdigung seiner Mutter hatte er den Anzug an und bei seinen Gerichtsverhandlungen. Es ist offensichtlich, dass es sein Anzug ist, kein geliehener. Dass er ihn schon oft getragen hat und nicht nur, weil man das vor Gericht oder bei einer Trauerfeier eben tut. Er saß einmal so gut, als sei er für ihn gemacht worden, auch wenn er das nicht war. Er war nicht von einem Maßschneider für ihn geschneidert, doch passgenau geändert worden, ehe seine Sekretärin ihn in einem schwarzen Kleidersack mit der Aufschrift der Schneiderei für ihn abholte. Die Verpflegung während der Haft ist ungenießbar, weshalb er etwas abgenommen hat und der Anzug nun nicht mehr ganz so gut sitzt. Bis zu seinem Haftantritt trug er ihn immer mit teuren Krawatten und dazu passenden Einstecktüchern. Die Richterin und Schöffen konnte er damit nicht beeindrucken. Eine Krawatte liegt jetzt in seiner Kiste, in die er fast alle persönlichen Gegenstände legen musste, bevor er zum ersten Mal eingeschlossen wurde. Heute vor achthundertzweiundfünfzig Tagen.

(Die Geschichte wird fortgesetzt und kann auch auf https://einundzwanziguhr.blogspot.com/2022/11/uber-scherben-laufen-1.html jeweils zusammenhängend bis zum jeweiligen Veröffentlichungsstand gelesen werden)

Ganz sicher

Sie hat seit Tagen mit niemandem gesprochen. Die Nachrichten reichen ihr, um ihre Gedanken zu beschäftigen. Und sie verwirren und verunsichern sie. Sie weiß nicht was sie glauben, denken oder tun soll. Und schon gar nicht was das Richtige wäre, das sie tun sollte. Sie will ihre Großmutter anrufen, sie hat immer eine Antwort. Und ohne weiter darüber nachzudenken, wählt sie ihre Nummer. Sie meldet sich wie immer, nur ihr Familienname. Und sie kann auch nicht sehen, wer sie anruft, weshalb sie sagt: ‚Ich bin’s‘, und ihre Großmutter antwortet nur mit: ‚Hallo mein Schatz‘.

‚Wie geht es Dir? Passt Du gut auf Dich auf?‘, will sie wissen.

‚Aber sicher‘, entgegnet ihre Oma.

‚Was passiert da jetzt?‘, fragt sie dann. ‚Was müssen wir jetzt machen?‘.

‚Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass es eine schlimme Grippewelle gab. Nach dem ersten Krieg. Sie mussten fast ein Jahr zu Hause bleiben. Hatten keine Schule und man hat allenfalls die eigene Familie treffen können. Nach einem Jahr war es wieder weg. So wird das auch sein. Kann ja nicht anders.‘

‚Und wenn doch?‘, fragt sie. ‚Kann man das länger aushalten?‘

‚Sicher, müssen wir ja dann.‘

‚Kann ich zu Dir kommen?‘

‚Sicher‘.

Sie legt auf, und das Gefühl zu ihr zu fahren, von ihr in den Arm genommen zu werden, mit ihr am Küchentisch zu sitzen und dabei Nachrichten zu schauen, beruhigt sie. 

Und dann erinnert sie sich, dass sie nicht mehr da ist. Sie ist weg, seit elf Jahren. Doch für sie, ist sie immer noch da. Sekundenweise, um dann zu bemerken, dass sie nicht mehr anrufen kann, nicht reden oder umarmen. Doch mit ihr sprechen kann sie noch. Und spüren, dass es sie gegeben hat. Auch wenn es sich merkwürdig anfühlt, nach all der Zeit. Sie hat sich nicht verändert, sie ist noch immer, wie sie war. So wie sie war, bevor sie krank wurde. Sie versteht sie immer, sagt jedes Mal etwas Hilfreiches und immer das Richtige. Selbstverständlich will sie mit ihr reden und selbstverständlich tut sie es. Wenige Augenblicke in denen sie die Realität vergessen und sich aufgehoben fühlen kann. Und mit den Jahren hat sie verstanden, auch diesen Schmerz zu verdrängen, den sie empfindet, wenn sie merkt, dass sie eben doch nicht mehr da ist und sie kann die Bruchteile von Sekunden genießen, in denen sie darauf vertrauen kann, ihr trotzdem begegnen und sicher sein zu können. Ganz sicher, ohne darüber nachzudenken.

Luftschlangen

An diesem Tag habe ich vielleicht unter dem Tisch gesessen. Vielleicht ist es auch ein Abend gewesen und vielleicht bin ich auch oben auf der Treppe gewesen, weil ich schon ins Bett gebracht worden bin und schlafen sollte. Bestimmt haben sie auch mal gelacht an dem Tag oder Abend. Nur auf dem Foto nicht, das an der Pressspanwand herunter rutscht, als ich die Regalböden leere von dem sie mich jetzt ansehen. Alle, nur sie nicht. Sie sieht am wenigsten froh aus. Bei den anderen könnten die Luftschlangen und der Alkohol gewirkt haben, bei ihr nicht. Dafür haben bei ihr die Zigaretten den weitreichendsten Effekt gehabt. Sie hat früh alt ausgesehen und ist auch als erste gestorben. Auf den Fotos sieht sie aus, als hätte sie das schon damals nicht verstanden und ungerecht gefunden. Sie ist die einzige, die in eine andere Richtung schaut, oder wie ich lange geglaubt habe, jedenfalls nicht mich ansieht. An dem Tag oder Abend, unter dem Tisch oder oben an der Treppe, habe ich sie auch nicht wirklich gesehen, alle nicht. Doch gehört, reden, lachen, diskutieren, die Gläser haben geklirrt und sind auf der Marmorplatte des niedrigen Couchtischs, unter den ich damals gepasst habe, abgestellt und hin und her geschoben worden, das Rädchen der Einwegfeuerzeuge, die Korken der Wein und Weinbrandflaschen und das scheinbar genüssliche Ein- und Ausatmen beim Rauchen. Ich meine all das heute noch zu hören und die dicke Luft zu riechen, die 8×4 und Grüner Apfel Shampoo im Laufe des Abends aus dem Wohnzimmer mit der niedrigen Kassettendecke vertrieben hat. Was ich gedacht oder gefühlt habe, weiß ich nicht mehr. Ganz sicher etwas ganz anderes als jetzt gerade, wo ich weiß, was ich weiß und ahnen hab’ ich das nicht können, oder hab’ ich? Jetzt würde ich ihr wünschen, noch da zu sein. Und dass sie an dem Tag oder Abend mehr Spaß gehabt hätte, sie auch eine Luftschlange um den Hals oder auf der Frisur gehabt hätte, ihr das nicht zu albern gewesen wäre und der Alkohol und die Zigaretten nicht notwendig für eine Sause. Dass sie ein Bild oder eine Fototapete auf die leicht vergilbte Wand geklebt und vielleicht andere oder mehr Freunde gehabt hätte, mehr jedenfalls als auf dem Foto oder als zu ihrer Beerdigung gekommen sind. Ob sie auch all das bedauert hat und wenn nicht, was dann, hab’ ich sie nie gefragt. Vielleicht ist alles so gut für sie gewesen. Es hat sich ja gut angehört an dem Tag oder Abend für mich. Doch heute sieht es nicht mehr gut aus. Ich lege das Foto zu den Büchern und den kitschigen Glasfiguren, die ich ausräume und die sie irgendwann begonnen hatte zu sammeln, bis zwei Regalböden voll damit gewesen sind und sie zu sammeln aufgehört hat und sie mit großer Regelmäßigkeit und Hingabe abgestaubt hat. Sogar Staubtücher die ausschließlich für die dünn geblasenen Schwäne, Ponys, Kätzchen und Spatzen verwendet worden sind, hat sie angeschafft. Alles liegt jetzt in den Kisten, die unter und auf dem Couchtisch stehen und morgen abgeholt werden.

Das letzte Hemd – Haus am Dom in Frankfurt – noch bis 26.2.

Wir hängen: Im letzten Hemd – im Haus am Dom in Frankfurt oder
„Stell Dir vor, Du bist tot“

„Wie kam es eigentlich, dass wir uns in unserem Totenkleid fotografieren ließen?“, überlegten Annegret und ich während der Vernissage letzte Woche zur Ausstellung „Im letzten Hemd“ im Frankfurter Haus am Dom. Die Antwort ist einfach: Wir wurden eingeladen. Wir hatten den Totenhemd-Blog frisch am Start, als uns eine Mail über Sinn und Zweck der Aktion „Im letzten Hemd“ informierte. Wir überlegten nicht lange und waren mit dem, was wir auf unserer letzten Reise einmal tragen würden zum Fotoshooting angereist. Ihr erinnert euch an unsere Blogartikel, die ich weiter unten verlinke.

Annegret und ich suchten in der Ausstellung erst einmal unsere Fotos und fanden sie schnell. Es war ein besonderer Moment für uns, die Aufnahmen nun in Originalgröße bewundern zu können. Ich bin im Hochzeitskleid gekleidet mit roter Jacke aus Hong Kong, auf der das chinesische Zeichen für Glück zu sehen ist. Wir machten schnell einen Schnappschuss von uns und schon ging die Veranstaltung los. 

Weiterlesen

19.11. Petra: Ausrangiert

Vor wenigen Minuten hatten sie Blumen in bunten Herbstfarben für eine Pflanzschale bestellt. Für Montag. Da soll die Beerdigung stattfinden. Das Trauergesteck mit den grünen Textfahnen und der silberfarbenen Schrift wird eine Geste sein, dass sie vier an ihn denken. Ein liebevoller Gruß für die letzte Reise. Viele Jahre haben sie mit ihm im gleichen Haus gelebt. Er war ihr Nachbar.

Sie genossen das gemütliche Ambiente im angrenzenden Café. Es fiel spätsommerliches Herbstlicht durch die geöffneten Glasscheiben. Die Sonne brannte. Der Kuchen schmeckte lecker. Es war viel los. Die Menschen zog es ins Freie. Eine Trauergesellschaft löste sich auf.

Am Nebentisch hörten sie wie eine Frau ins Erzählen kam. „Ich hab heute das blau-weiß karierte Hemd meines Vaters aus meinem Kleider- in den Flurschrank gehängt. Was soll dieses Hemd in meinem Schrank, dachte ich? Viel zu nah dran an meiner Garderobe.

Weiterlesen

17.11. Anja: Totenhemd – ist das Prosa oder kann das weg?

„Das macht sie nicht… Oder?!?“ etwas nervös hört man die Stimme…

„Neeein, das macht sie nicht.“ tönt es beruhigend zurück.

„Das macht sie NICHT!!!“ etwas lauter.

„Nein, nein, natürlich nicht, das würde sie nie tun…“ wieder beruhigend…

„Lasst mich mal durch, ich kann gar nichts sehen… Ach, schau, die Anja habe ich ja lange nicht gesehen. Gut sieht sie aus, so fröhlich.“

Hier bei Anja weiterlesen.

15.11. Sarah Bernhardt T arnkleidung

T arnkleidung
O hne
T aschen
E nthält
N notwendigerweise
H eute
E in
M ahnendes 
D ennoch

***

Danke Sarah!

Ich hatte bei der Gelegenheit bei uns geschaut, ob Du einen Blog schreibst. Dabei habe ich diesen wunderbaren Text von dir entdeckt: Es geht.

19.2. Karin: Ich nähe mir mein Totenhemd

…. damit es zu Lebzeiten in meinem Schrank hängt und mich daran erinnert,
wie kostbar das Leben ist.

Nachdem ich von dem alten Brauch gelesen habe, schon zu Lebzeiten das eigene Totenhemd im Schrank hängen zu haben, entschloss ich mich – bis ins Innere davon berührt – im Zuge meiner Diplomarbeit, für den Abschluss zur Handarbeitslehrerin, mir mein Totenhemd selbst zu nähen.

Daneben begann ich mich auf die Suche zu machen nach alten und neuen Riten in der Welt, wie mit dem Tod und der Trauer umgegangen wurde und noch immer wird. Ein großer farbiger Teppich breitete sich vor mir aus, voll mit Informationen, Bildern, Bräuche, Gefühle und Gedanken. Ein ganz neues Land, das es für mich zu entdecken gilt und ich freue mich auf die Reise die noch vor mir liegt.

Weiterlesen

Mit Sicherheitsabstand bei Kaffee und Kuchen über den Tod geprochen

mein totenkleid

mein Totenkleid

Jürg war bei uns auf der Terrasse bei schönstem Wetter. Unser Freund hier vom Ort. Fragte mich nach unserem Totenhemd-Blog und ob wir nicht über den Tod sprechen wollten.

„Ja klar“. Ich zeigte ihm dann noch mein Brautkleid, das mein Totenhemd sein soll und die rote Jacke aus Hongkong dazu.

„Du kannst aber auch was schreiben für unseren Blog, das würde mich freuen. Jetzt wo du das Land verlässt.“

P1000969_WaldbachBeimTeufenbachweiher

von Jürg 

Sprechen wir vom Tod

Das Totenhemd steht zur Diskussion. Das wird gewungenermaßen etwas virtuell und das mögen nicht alle. Wir haben ja meist – Gott sei Dank – Besseres zu tun, oder Vergnüglicheres – Handfestes. Doch das ist Ansichtssache. Ich zum Beispiel rauche ja gerne eine Zigarette und probiere, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Eine meiner Meinung nach unterschätzte Kunst.

Hier entlang zu Jürgs Blog um den vollständigen Text zu lesen.

Jürg, merci vielmals und alles Gute für die nächste Reise und den Lebensumbruch. Ich schenke dir einen Satz von Rainer Maria Rilke:

Wer weiß, wer ich bin? Ich wandle und wandle mich.