„Das letzte Hemd hat keine Taschen,“ sagte er und wuchtete eine Kiste Rotwein in seinen auf den Tresen an der Kasse. Dort bezahlte er mit einem Lächeln einen Betrag, mit dem andere Leute durchaus einen Urlaub finanzieren würden und verließ das kleine Geschäft. „Und ein Totenhemd schon gar nicht!“
„Weißt Du“, hatte er ungefragt an der Kasse dem Inhaber, den er als Stammkunde schon lange duzte, erklärt: „Ich kann sowieso nichts mitnehmen auf diese Reise. Gar nichts. Zumindest nicht, was ich schleppen müsste. Nur das hier…“ Er klopfte liebevoll auf die hölzerne Kiste, „das will ich mir noch gönnen.“ Sein Grinsen war verschmitzt. „Das muss einfach sein!“
Bald schon würde er den ganzen Scheiß, der ihm auf die Nerven ging, hinter sich lassen und dann hätte er seine Ruhe. „Endlich!“
Er konnte es kaum erwarten.
Er lud den Barolo in den Kofferraum, klappte den Deckel zu und öffnete die Fahrertür. Schwer ächzend ließ er sich auf den Sitz fallen. „Man wird halt auch nicht jünger – und schon gar nicht beweglicher!“ Dann zog er die Tür zu, startete den Motor und rangierte sein Auto aus der Parklücke. Fast hätte er dabei die Frau übersehen, die hinter dem Wagen über die Straße ging und einen kleinen Hund an der Leine hinter sich herzog. Nur um Haaresbreite entging auch der Hund dem Hinterrad. „Mistvieh, blödes!“ entfuhr ihm ein Fluch, denn den Hund hatte er erst im letzten Moment gesehen, als er mit voller Wucht auf die Bremse trat. Dabei war er überaus tierlieb, würde nie auch nur einer Fliege etwas zu Leide tun, es war nur der Schreck, der ihm diese Reaktion entlockte.
Wütend über den Vorfall und vielleicht auch ein wenig über sich, weil er nie im Leben gedacht hätte, dass ihm so etwas passieren könnte, fuhr er durch die Stadt hinaus in den Vorort, bog in seine Siedlung ein und drosselte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit. Viele Kinder wohnten hier, sie spielten auf der Straße, so wie er das auch früher gemacht hatte. Da wollte er besonders rücksichtsvoll sein. Das mit dem Hund, das hatte ihm gereicht.
Mit der Fernsteuerung öffnete er das Garagentor, fuhr vorsichtig die Einfahrt hinauf und parkte das Auto.
Der Kofferraum öffnete automatisch, er wuchtete die Kiste heraus, die ihm mit jedem Schritt in seinen Händen schwerer zu werden schien. Die Garage ließ er offen.
„Pah“, ächzte er und erinnerte sich, dass er seine Reise ohne irgendetwas antreten wollte. „Leichtes Gepäck ist das ganz sicher nicht!“ entglitt ihm eine zynische Bemerkung.
Im Haus angekommen hievte er die Kiste auf den Esstisch und noch bevor er die Jacke ausgezogen hatte, entkorkte er zwei Flaschen. „Der Wein muss atmen. Also atme!“
Eine Flasche dekantierte er in eine teure Kristallkaraffe, die andere stellte er daneben. Das gab nicht nur ein gutes, verführerisches Bild ab, den Wein zu probieren, er hatte nur die eine Karaffe, sonst hätte er die zweite Flasche auch dekantiert. Zwei Gläser holte er aus dem Schrank, warum eigentlich ein zweites? Er brauchte doch sowieso nur noch eines.
Ein Blick auf die Uhr signalisierte ihm: Es war nur noch eine Frage von einer knappen Stunde. Das weiße, geschmacks- und geruchlose Pulver, das er aus einem Tütchen in die Karaffe schüttete, versank langsam im Rotwein. Dort würde es sich auflösen und dann, wenn man es trank, seine Wirkung entfalten. Aber genau das war ja seine Absicht.
Mit der Fernbedienung startete er eine Playlist, als erstes ein Violinkonzert, bei dem er sich immer wieder ärgerte, dass er sich den Namen der Solistin nicht merken konnte, immer wieder hatte nachsehen wollen und es doch nie getan hatte. In Endlosschleife würde nun der erste Satz wieder und wieder aus seiner Stereoanlage, die mit seinem Tablet gekoppelt war zu hören sein. Entweder würde es irgendwann irgendwer abschalten oder es lief, bis der Akku leer war. Das war nicht vorhersehbar.
Er dimmte das Licht, schloss die Vorhänge und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Etwas zögerlich betrat er sein Schlafzimmer. Er wollte sich etwas Bequemes anziehen. Vielleicht den Pullover, den er so mochte, den er vor zwei Jahren zu Weihnachten bekommen hatte – damals, als noch alles in Ordnung war?
Ein paar Zeilen kritzelte er auf ein Blatt Papier, faltete es zusammen und kehrte in die große Wohnküche zurück. Das Blatt stellte er vorsichtig gegen die geöffnete Weinflasche, es sollte nicht umfallen. Auf den ersten Blick beim Betreten des Raumes aber sollte es zu sehen sein.
Und so war es später auch.
Später, als man ihn bei einer Verkehrskontrolle auf der Landstraße Richtung Autobahn anhielt. Der Polizist fragte nach Führerschein und Papieren und ermahnte ihn er doch ein wenig arg schnell über die Landstraße gefahren war, immerhin dämmerte es bereits und es zog Nebel auf.
Das war etwa zu der Zeit, als in seinem Haus seine Exfrau, mit der er sich vermeintlich gut verstand, den dekantierten Wein, die Flasche und den Zettel gefunden hatte. Eigentlich wollten sie sich an diesem Abend zusammensetzen, es gab noch gemeinsamen Besitz, der geteilt werden musste. Friedlich und aufgeregt natürlich. Natürlich! Denn sie verstanden sich noch immer, sie hatte noch immer einen Schlüssel von seinem Haus, das einst auch ihres gewesen war. Und weil er trotz Klingelns nicht öffnete und auch nicht an sein Telefon ging, schloss sie die Tür kurzerhand auf.
„Trinkt einen Schluck auf mich, ich musste schnell noch was erledigen. Ich bin in einer Stunde wieder zurück. Gruß G.“
Und sie trank. Sie war begeistert, wie aufmerksam er zu ihr war, vor allem nach all dem, was vorgefallen war. Sogar das Konzert, dass sie beide so begeistert hatte, lief. Ihr zuliebe. Das war schön, aber doch aufdringlich und übergriffig. So war er immer gewesen. Zu rücksichtsvoll, zu einfühlsam, zu sehr auf sie fixiert. Das nahm ihr die Luft zum Atmen.
Wie der Wein, von dem sie bereits einige Schlucke getrunken hatte. Auch er nahm ihr die Luft. Sie krampfte zusammen, stürzte.
Es war das letzte, was sie tat, während er zur gleichen Zeit einige Kilometer die Ermahnung des Polizisten akzeptierte. Er hatte nichts getrunken, seine Papiere gezeigt, war unverdächtig, durfte weiterfahren. „Aber passen Sie etwas auf,“ hatte der Beamte noch gesagt. Es ist dämmrig, die Sicht ist nicht gut, die Felder werden geerntet, die Straße ist dreckig.“ Was so viel hieß, er solle vorsichtig sein, nicht zu schnell fahren.
„Ja, dankeschön!“ war seine eher einsilbige Antwort.
Kaum, dass er weiterfahren durfte, warf er Führer- und Fahrzeugschein neben sich auf den Beifahrersitz Bloß nicht diskutieren, bloß nicht auffallen, einfach mit einem schlanken Fuß durch die allgemeine Verkehrskontrolle. Dann weiter, nur weg. Weit weg. Er ließ alles hinter sich, vollkommen egal, was passieren würde, vollkommen egal, ob man ihm auf die Schliche kommen würde. Selbst wenn, dann würde er weit weg und für alle unerreichbar sein.
Hard Rock dröhnte aus der Anlage seines Wagens, laut, bombastisch, wummernd. Er lachte kurz. „Wie schön wenn Pläne funktionieren! Ich liebe es.“
Dann trat er doch auf das Gas. Der Motor heulte auf, sein Fahrzeug machte einen raubtierhaften Satz nach vorne, der ihn in den Sitz presste. Dann legte sich das Fahrzeug geschmeidig auf die Straße, schnurrte und rannte. Rannte.
Noch einmal Gas geben.
Dabei übersah er das Reh, das hinter einer langgezogenen Linkskurve aus einem abgemähten Maisfeld auf die Fahrbahn rannte. Direkt vor seinen Kühler.
Das Tier hatte keine Chance.
Er auch nicht.
Hallo Lutz, uiii böse böse …. danke für deine Geschichte :-). Das Kino im Kopf lief eindeutig in eine andere Richtung. Und dann die interessante Überraschung … blödes Reh! Schön geschrieben! Hat mir gefallen. HG Petra
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Aber das Reh kann doch gar nichts dafür. 🙂
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