Auf dem Friedhof St. Walburgis

Frühling liegt in der Luft – das erste Grün an den Bäumen, Narzissen und Forsythien blühen, Bienen surren, Vögel zwitschern.
Aber noch ist es kühl – von den Tourist:innen, die sommers diesen Hotspot in Oberbayern besuchen, ist noch wenig zu sehen, aber es ist auch noch früh am Tag und unter der Woche fehlen auch die Ausflügler.
Das ist perfekt, um in aller Ruhe einen Spaziergang am Klostersee in Seeon zu machen, mal wieder die Klosterkirche St. Lambert anzuschauen und anschließend den Friedhof von St. Walburgis zu besuchen. Dieses Mal, um einen Blogbeitrag zu schreiben.

St. Walburgis ist eine kleine, kunsthistorisch interessante Kirche in der Gemeinde Seeon-Seebruck. Ein winziger Friedhof umgibt das alte Gebäude und doch weist er etwas Besonderes und für Oberbayern sehr Ungewöhnliches aus: Mehrere Grabsteine in kyrillischer Schrift und russisch-orthodoxe Kreuze befinden sich dort.
Um das Ganze verstehen, muss man ein wenig in der Geschichte blättern:
Einst war St. Walburgis die Kirche eines Frauenklosters, das wiederum ein Ableger des nahegelegenen Klosters Seeon war. Beide wurden in napoleonischer Zeit säkularisiert und privatisiert und fielen dem Haus Leuchtenberg zu.
Herzog Eugené war Stiefsohn Napoleons und Schwiegersohn des ersten bayerischen Königs Maximilian I – die Familie Leuchtenberg somit der ranghöchste bayerische Adel neben den Wittelsbachern.
Der dritte Herzog Leuchtenberg schließlich, der zweite Sohn Eugenés, wurde vom bayerischen König nach Russland entsandt. Dort heiratete er die Tochter des russischen Zaren Nikolaus I. und kehrte nicht mehr nach Bayern zurück.
Der russisch-orthodoxe Friedhof von St. Walburgis geht auf Amélie von Leuchtenberg zurück, die die Kirche 1852 erworben hatte.
Die Leuchtenbergs stiegen in Russland zu einer der wichtigsten und vermögendsten Familien am Zarenhof auf, Eugenés Enkel Peter heiratete gar die Schwester des Zaren Nikolaus II.

Anastasia Manahan, 1920

Doch mit der russischen Revolution verloren die Leuchtenbergs den Großteil ihres Vermögens in Russland, sie wurden enteignet und mussten fliehen.
Mit dem Ende des ersten Weltkriegs war es auch mit der besonderen Stellung des Adels in Deutschland vorbei. Zwar hielt die Familie Leuchtenberg das Kloster Seeon bis 1934, doch musste die Familie nach und nach ihre Besitztümer verkaufen, letztlich auch das ehemalige Kloster.
Mittlerweile gehören der Friedhof und die Kirche der Gemeinde Seeon, das Kloster Seeon dem Bezirk Oberbayern, das dort eine Tagungsstätte und ein Hotel betreibt.
Heute finden sich auf dem Friedhof noch russische Grabstätten und Epitaphe zu Ehren der Leuchtenbergs, denn die Familie von Leuchtenberg hatte die Schenkung an die Gemeinde mit der Bedingung verknüpft, das Andenken an die Familie sicherzustellen.
Neben den Angehörigen der Leuchtenbergs hat es mit einem Urnengrab direkt an der Friedhofsmauer eine ganz besondere Bewandnis:
Dieses Grab nämlich ist die letzte Ruhestätte der Amerikanerin Anastasia Manahan, die Zeit ihres Lebens von sich behauptet hatte, in Wahrheit Anastasia Romanowa zu sein: Die letzte Zarentochter.
Noh einmal ein ganz kurzer Blick in die Historie: Die Familie von Zar Nikolaus II. war während der Revolution festgesetzt worden, der Zar und seine Angehörigen waren 1918 ermordet und die Leichen in einem stillgelegten Schacht versteckt worden.
Schon bald entstand das Gerücht, dass nicht alle Familienmitglieder bei dem Massaker ums Leben gekommen seien und in den 20er Jahren meldete sich in Berlin die Fabrikarbeiterin Franzisca Czenstkowski, die behauptete, in Wahrheit Anastasia zu sein.
Schnell wurde die Boulevardpresse aufmerksam, das Interesse der Öffentlichkeit wuchs beständig und verlangte nach mehr. 1928 erschien das Buch Anastasia – Ein Frauenschicksal als Spiegel der Weltkatastrophe. Ermittlungen über die jüngste Tochter des Zaren Nikolaus II der Bildhauerin Harriet von Rathlef-Keilmann. Es erzählt genau diese Geschichte.
Dem Buch folgte ein Theaterstück, auf diesem wiederum basieren zwei Spielfilme der 50er Jahre, die Hollywood-Version mit Ingrid Bergmann in der Hauptrolle und der deutsche Spielfilm mit Lilli Palmer.
Der Rest ist schnell erzählt: 1968 übersiedelte Anastasia in die USA und heiratete den Historiker John Eacott Manahan. Sie starb 1984.
Überrascht wurde die Gemeinde Seeon, als sie im Frühjahr 1984 aus den USA die Anfrage erhielt, die Asche Anasasias auf dem Friedhof St. Walpurgis zu bestatten.
Dem stand wenig entgegen. Vielleicht spekulierte man auch ein wenig darauf, mit einem Prominentengrab einen weiteren touristischen Anziehungspunkt nach Seeon holen zu können und das Interesse an der Grabstätte war in den Folgejahren groß. Da lag ja nun nicht irgendwer, nichts Genaues wusste keiner. Aber darum ging es ja auch nicht. Von 1984 bis 1994 also befand sich die Asche der möglichen russischen letzten Zarentochter auf dem Friedhof.
Dann aber war es vorbei mit der Legende: Eine DNA Analyse einer Gewebeprobe Anastasia Manahans aus einem amerikanischen Krankenhaus wies zweifelsfrei nach, dass sie nicht mit der Zarenfamilie verwandt war. Eine weitere DNA Analyse von den erst 1991 gefundenen Leichen der Zarenfamilie wiederum bewies, dass auch die  Überreste der echten Anastasia darunter waren.
Das war’s.
Unklar wird immer bleiben, ob Anastasia Manahan wirklich überzeugt war, die Zarentochter zu sein und es sich quasi um eine Art Wahnvorstellung handelte oder ob sie als Hochtaplerin wissentlich einen Betrug inszeniert hatte. Fazit: Kein Prominentengrab in Seon.

Also gehen Sie weiter. Es gibt hier nichts zu sehen.
Oder doch – es kommt ganz darauf an.

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