Unsterblich

Das ich ein Mann bin, kommt nicht häufig vor. Ich war Juan, Jiroemon, Emiliano, Christian und ganz oft eine Frau. Ich weiß nicht nur, wie es sich anfühlt das eine oder andere zu sein, sondern auch wie es ist, ein Supercentenarian zu werden, auch wenn ich dieses Wort jedes Mal wieder zum ersten Mal höre und es mir auch meist nicht für die nächsten zehn bis dreizehn Jahre merken kann. Auch nicht, dass nur ein Promille derer, die älter als einhundert Jahre alt werden, auch älter als einhundertzehn Jahre alt und damit Supercentenarian werden.

Damit ich nicht vergesse, dass es mich überhaupt gibt, bekomme ich eine Urkunde, die das bestätigt, sobald ich es bin. Manchmal kann ich sie nur für einige wenige Tage aufhängen. Doch ich bekomme netten Besuch, der die Urkunde und eine Menge Fotografen mitbringt und mich nach meinem Geheimnis fragt. Dann sage ich jedes Mal etwas anderes und jedes Mal wird daraus eine große Geschichte gemacht. Niemand stellt in Frage, dass meine Aussagen falsch sein könnten, auch wenn sie inkonsistent sind. Ich bin ja der lebende Beweis, immer die Person mit der meisten Lebenserfahrung – und unsterblich.

Ich werde immer da sein, irgendwie, als irgendwer. Inzwischen habe ich in mindestens zwanzig verschiedenen Ländern gelebt, unzählige Berufe und Namen gehabt. Ich erinnere mich so wenig an alle, wie andere Menschen auch. Interessant bin ich meist nur am Tag meines Todes und wenn ich meinen Namen oder mein Geschlecht ändere oder eben mein Geheimnis teile an dem Tag, an dem man mir die Urkunde überreicht: Viel arbeiten, Fish & Chips, Geduld, spazierengehen, Schlaf, Hoffnung, Glück, Schokolade, Mathematik und Gelassenheit. Wenig rauchen, Fleisch, Alkohol, Sport, Kinder, Luxus und Veränderung. Oder jeweils das genaue Gegenteil. Und auch beim nächsten Mal wird den Leuten keine originellere Frage einfallen, doch es wird weltweit berichtet. Und dann wird es erst wieder spannend, wenn ich erneut jemand anderer bin. Dann wird zunächst akribisch überprüft, ob ich es wirklich sein kann. Und wenn es kein Papier mit einem amtlichen Stempel gibt, das mein Geburtsdatum belegt, dann bin ich es eben nicht, egal, wem ich schon begegnet bin und wie sehr Knie und Rücken schmerzen. Ich habe Van Gogh gekannt, habe Kaiser, Königinnen und Diktatoren getroffen, Kriege, Revolutionen und Naturkatastrophen erlebt. Und offenbar überlebt, wie auch die meisten meiner Freunde und viele Angehörige.

Ich glaube, die wenigsten wollen ich sein. Irgendwann einmal auf dem Weg dorthin wollten sie es vielleicht, wenn ich den begehrten Junggesellen geheiratet, dieses besonders begabte Kind oder eine Beförderung bekommen oder eine Covid-Infektion überlebt habe – aber nicht am Ziel. Ihre fünf Minuten Berühmtheit würden wohl die meisten lieber früher haben, wenn die Augen noch nicht trüb, die Haut nicht faltig, der Gang noch nicht gebeugt und die Stimme, Arme und Beine noch stark sind. Und wäre es nicht schöner, wegen einer besonderen Leistung berühmt zu werden? Weil man schnell laufen, hoch springen, weit gehen oder tief tauchen kann, besonders schön singt, malt, schreibt oder musiziert oder – im allerbesten Fall – besonders freundlich ist. Alt werden ist keine Leistung, eher ein gutes Schicksal, wenn man mehr als zweihundert Nachkommen hat, oder ein schlechtes , wenn man sich deren Namen nicht mehr merken kann und um so alt zu werden täglich zwei rohe Eier trinken muss.

Nicht immer habe ich in Blue Zones gelebt, aber am liebsten. In diesen Gebieten der Welt, die so heißen, weil jemand mit einem Kugelschreiber blaue Kringel um die Gegenden gemacht hat, in denen die meisten Überhundertjährigen leben, scheint die Sonne mehr als anderswo, sind die Tage ruhig und das Meer nicht weit.

So wie gerade in Katalonien. Ich höre und sehe nicht mehr viel und auch mir etwas zu merken ist schwierig geworden. Doch ich kann mich erinnern an ganz vieles. Mit sieben Jahren, vor einhundertzehn Jahren, bin ich hierher gekommen. Ich habe Tennis und Klavier gespielt, bin im Bürgerkrieg geflohen, zurückgekehrt, habe zwei Weltkriege und zwei Pandemien überlebt. Vielleicht ist es, weil mein Früher früher als alle anderen Früher ist, dass ich mir sicher bin, dass früher vieles besser war.

Bevor ich in Katalonien gelebt habe, war ich als Ordensschwester in Toulon. Und wenn nun alles seinen Gang geht, werde ich demnächst einmal mehr in Japan leben, maximal hundertdreißig Kilometer vom Meer. Und wenn nicht alles seinen Gang geht und ich mal wieder ein Mann bin, dann voraussichtlich in Großbritannien, maximal hundertdreizehn Kilometer vom Meer. Ich werde immer besonders gefeiert, wenn ich ein Mann bin. Wohl weil ich so selten einer bin und mehr Heldengeschichten erzähle, auch wenn ich allein aufgrund der geringeren Langlebigkeit realistischer Weise weniger erlebt habe. Das ist vielleicht der einzige Aspekt, bei dem das Leben gerecht ist, dass all die virilen Vorteile durch die verkürzte Lebenserwartung und den bei Männern typischeren Haarverlust ausgeglichen werden. Doch ich bin unsterblich. Ich bin der älteste Mensch der Welt. Alle anderen sterben früher als ich.

(Bilder durch KI generiert (deepai.org/pixlr.com))

2 Gedanken zu „Unsterblich

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