Vater & Sohn

Du kannst Dir das nicht vorstellen, wie das ist und auch nicht, wie es gewesen ist. Nicht die Sorgen, nicht die Schmerzen. Die habe auch ich gehabt. Und jetzt habe ich sie immer, andere. Unendliche. Sie werden erst aufhören, wenn ich gegangen sein werde. Jetzt muss ich mir endlich keine Sorgen mehr machen. Jetzt wirst Du es ertragen können.

Du kannst das nicht verstehen. Du kannst nicht wollen, dass ich es verstehe und schon gar nicht, dass ich es ertrage. Wenn Du von Ertragen sprichst, weißt Du, was es für mich bedeuten wird. Doch Du kannst Dir nicht vorstellen, was es noch bedeuten wird. Und genauso wenig kann ich verstehen, was es für Dich bedeutet, dass Du gehen willst.
Würdest Du es nicht auch wollen, wenn Du ich wärst. Warum willst Du es nicht für mich, wenn Du es an meiner Stelle ebenso wollen würdest?

Würde ich das? Vielleicht, wenn es mich nicht gäbe. Aber so kann ich Deinen Egoismus nicht verstehen. So wenig, wie Du meinen verstehst oder jemals verstanden hast. Mein Wille zu leben, ist für Dich schon immer Egoismus gewesen.
Zwei Egoisten. So haben wir doch noch einmal etwas gemeinsam. Lass mich gehen.

Du hast mich auch nie gehen lassen.
Wenn ich jetzt gehe, kann ich Dich nicht mehr davon abhalten zu gehen. Wenn Du Dich bislang nicht frei gefühlt hast, wirst Du es sein können, wenn ich gegangen bin.

Wie soll das gehen? Wie könnte ich vergessen wozu Du mich gemacht hast? Vergessen, dass ich zu jung, zu alt zu klein, zu groß, zu anspruchsvoll, zu wenig ambitioniert, zu naiv, zu gutgläubig, zu voreingenommen, zu immer irgendwas bin, jedenfalls gerade genau das nicht, was hilfreich wäre. Das geht nicht mehr weg. Auch nicht ohne Dich.
Das ist doch nicht meine Schuld.

Doch.
Und wenn ich bleibe?

Ist es immer noch Deine Schuld.
Ich kann mich also nicht exkulpieren. Dann ist es doch egal, ob ich gehe oder bleibe.

Du könntest Dich entschuldigen, bei mir.
Um Verzeihung bitten?

Ja.
Wofür?

All die Verletzungen, all den Schmerz.
Und Du?

Und ich?
Wirst Du mir vergeben?

Vielleicht. Ganz sicher nicht, wenn Du gehst?
Irgendwann werde ich gehen. Das ist unvermeidbar.

Aber jetzt musst Du noch nicht.
Ich halte es nicht mehr aus.

Das hat Dich in meinem Fall nie interessiert.
Hast Du jemals solche Schmerzen gehabt. Jemals das Gefühl, dass Du ersticken wirst. Immer und immer wieder, weil immer noch gerade so viel Luft in Deine Lunge kommt, dass es sich nur so anfühlt und Dein Gehirn die Panik noch erkennt und immer wieder den Notfallplan aktiviert und mit jeder Erfahrung einen Erfolg beim Überleben für immer unwahrscheinlicher hält und extreme Reaktionen auslöst?

Vielleicht nicht physisch. Doch kannst Du Dir vorstellen wie es ist, immer nur genau so viel Freiheit zu bekommen um die Möglichkeit zu haben, zu erkennen wie beengt sie ist und bei jeder Erfahrung zu spüren, dass sie noch enger wird?
Lass uns tauschen.

Was willst Du tauschen?
Schmerzen gegen Freiheit.

Freiheit gegen Schmerzen. Deine unerträglichen Schmerzen für meine Freiheit. Ein mieses Geschäft.

2 Gedanken zu „Vater & Sohn

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