Als Helmut nicht mehr zu Hause leben konnte, beschloss er zu sterben. Er hörte auf zu essen, legte sich hin und starb binnen zwei Wochen.
Als Fritz mit 95 Jahren nach einer Erkältung schwächelte, wollten ihn die Pflegerinnen wieder aufpäppeln. Mit Astronautenkost oder so was in der Art. “Wohin wollen Sie ihn denn päppeln?“ fragten Tochter und Schwiegertochter. „Er hat gerade seinen 95. Geburtstag gefeiert und findet das sei alt genug.“ Die Pflegenden wunderten sich. So etwas hören sie nicht alle Tage. Meist soll das alte Leben weiter und weiter gehen. Dann ließen sie sich auf ein Gespräch ein und vereinbarten, wie Fritz begleitet werden sollte. Auch er hörte auf zu essen, verabschiedete sich friedlich und ging innert 4 Wochen. Jemand öffnete die Fenster für ihn. Es war licht und hell in seinem Sterbezimmer. Die Töchter waren beglückt.
Nun sammelt die Schwiegertochter um sich herum Menschen, die sie einmal auf die gleiche Weise vorm Weiterleben-Müssen beschützen werden. Denn auch sie ist schon Anfang 80 und spürt, wie sie jeden Morgen nicht nur ihre Glieder sondern auch das Leben selbst wieder zusammensammeln muss. Kleine Tode erlebt sie Tag für Tag, so beschreibt sie ihr Altwerden. Und findet das völlig in Ordnung so. Danach geht sie ins Buchcafé. Liest, schreibt, unterhält sich. Arbeitet an einem Vortrag, den sie hier im Buchladen halten wird. Freut sich darüber, wie diese Aufgabe ihren Kopf aufräumt.
Freut sich, dass wir bei unserer Begegnung so direkt in dieses Thema springen. „Früher“, sagt sie, „in meinem Dorf, da hatten die Alten ihren Platz und ihre Aufgaben, und wenn es nur ganz kleine waren. Den Speck schneiden. Die Kartoffeln schälen. Wenn es genug war, legten sie sich hin zum Sterben. Die anderen wussten das und ließen sie.“
Nun, da medizinisch auch für Hochaltrige so unglaublich viel möglich ist, wird das oft vergessen und schlimmer: übergangen, dass es mit 80 genug sein darf. Ich weiß, es ist für die anderen sehr schwer zu spüren, ob es gerade ein schlechter Tag ist. Oder ob es mit diesem Tag genug Leben war. Lebenssatt.
Die Angehörigen von Helmut wussten es und ließen ihn gehen. Ich glaube, das ging in alter Dorftradition ohne viel reden. Und hinterließ eine Ruhe, die auch bei allen, die bei seiner Beerdigung waren, nachwirkt.
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In Würde gehen zu können – wer wünscht sich das nicht? Daran sollten wir alle denken und arbeiten und nicht, wie man aufgepäppelt 120 Jahre werden kann.
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Ein beeindruckender Bericht. Ich durfte einen ähnlichen Abschied vor gut zwei Monaten erleben. Diese Ruhe und Zuversicht… es hat mich sehr , sehr berührt. Liebe Grüße. Priska
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oh, da fällt mir eine Begegnung im Krankenhaus wieder ein … sie kam zur Bestrahlung … und zog ohne Bestrahlung nach 2 Tagen um ins Hospiz … das muss ich mal in meinem blog aufschreiben, wie das war – sie war auch schon über 80!
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informiere uns wenn du es geschrieben hast!!
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Ein sehr interessantes Thema. Die alten Menschen, die wissen, dass es gut gewesen ist und gehen wollen, sind auf verständnisvolle und einsichtige Menschen in ihrem Umfeld angewiesen, sei es Familie, Pflegende oder Ärzte. Meistens sind die es, die den Tod nicht akzeptieren wollen.
In unserer ach so aufgeschlossen, wissenden und modernen Gesellschaft fehlt es schlicht und ergreifend an einer Sterbekultur. Aber den Tod in das familiäre Leben zu integrieren, so wie es früher auf dem Lande gewesen ist, dass sehe ich nicht mehr kommen. Das liegt an unserer geänderten Lebensverhältnisse, aufgrund derer es ja auch kaum noch Mehrgenerationenhaushalte gibt. Das kann man aber auch nicht verurteilen. In der frühren Zeit war das auch keine Romantik und Idylle.
Deshalb finde ich, dass die Hospitze ein sehr gute und wichtige Funktion für ein würdiges und selbstbestimmtes Sterben haben.
Aber alle Facetten hier zu betrachten, würde doch den Rahmen eines Kommentars sprengen.
Viele Grüße
Volker
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„Wenn es genug war, legten sie sich hin zum Sterben. Die anderen wussten das und ließen sie.“
Was für Sätze. Darüber werde ich noch lange nachdenken. Danke!
Liebe Grüße
Christiane
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Es gibt schon Lebensmomente, da wird man aus unterschiedlichen Gründen schon nachdenklich.
Das ist so ein Moment, den ich in meiner 666. Tagebuchnotiz festhielt:
*
Todesanzeige
Jüngst hatte ich in so mancher NACHT

den ENTWURF meiner TODESANZEIGE
mit mir erörtert, weil ich dachte,
die ZEIT sei nun gekommen …
___
© PachT 2018
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Hat dies auf Ruhrköpfe rebloggt und kommentierte:
„Nun, da medizinisch auch für Hochaltrige so unglaublich viel möglich ist, wird das oft vergessen und schlimmer: übergangen, dass es mit 80 genug sein darf. Ich weiß, es ist für die anderen sehr schwer zu spüren, ob es gerade ein schlechter Tag ist. Oder ob es mit diesem Tag genug Leben war. Lebenssatt“.
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Zu wissen und zu spüren wann es genug ist, finde ich großartig. Und wenn es das Umfeld dann würdigt und mitbekommt, ist es noch großartiger. Wir sind dran und werden hinspüren und Raum und Zeit schaffen für die, die gehen wollen.
Liebe Grüße aus der Ferne. P
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Sehr interessant! So etwas las ich erstmalig von den Aborigines und ließ mich nicht mehr los. Dass es das bei uns auch gab, lese ich zum ersten Mal.
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Danke, denn dieses offenbar natürliche Verhalten scheint kaum noch einen Raum in unserer Zeit zu finden bzw. müssen die Betroffenen darum auch noch kämpfen, in Würde sterben zu dürfen
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Ja, die Frau, mit der ich darüber redete, sprach von einem Schutzraum, den die anderen für uns kreieren. Manches mal scheint das Vehemenz zu erfordern.
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Sehr gute Gedanken, Frau Zander! Ich bin auch immer wieder erstaunt, mit welcher Vehemenz der Tod ausgeblendet wird, wie sehr er als Fehler im System betrachtet wird, ungeachtet des Alters. Ich glaube es ist Zeit, den Tod – gerade im Alter, aber auch sonst – in unser Leben zu lassen. Ihn zu umarmen, statt ihn zu verdammen. Dann verliert er vielleicht seinen Schrecken….
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