Am Sterbebett der Mutter – eine Romanpassage

Johannes Gillhoff, Bildquelle unbekannt

Zur Erklärung eine kurze Vorgeschichte:
Während meines Studiums beschäftigte ich mich in einem Seminar auch mit der Ars moriendi, der Kunst des Sterbens, an sich einer mittelalterlichen literarischen Gattung. Es ist eine Art Erbauungsliteratur, die dem Gläubigen den Übergang vom Leben zum Tod nicht nur erleichtern, sondern auch erklären sollte.
Im weitesten Sinn gehört zur Ars moriendi auch die Schilderung von Sterbeszenen in an sich anderer Literatur und so war unter anderem Teil des Seminars, ein Blick in das Buch Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer von Johannes Gillhoff zu werfen. Sicherlich ist dieser kleine Roman weder Welt- noch Erbauungsliteratur. Der Briefroman erschien 1917, Gillhoff verwandte darin Briefe des Auswanderers  Carl Wiedow, die dieser dem Vater Gillhoffs, der Dorfschullehrer war, geschrieben hatte. Das Buch erzählt in Briefen die Geschichte eines Amerika-Auswanderers aus dem Mecklenburgischen in der Mitte des 19. Jahrhunders, der seinem alten Dorfschullehrer immer wieder von seinem neuen Leben und den Erlebnissen in der neuen Welt berichtet.
In einer Passage schildert er den Tod seiner Mutter, sehr feinfühlig und anrührend. Es lohnt, diese Passage hier in Ausschnitten wiederzugeben. Sie ist ein Ausnahmestück in dem Briefroman, der ansonsten eher geprägt ist von Humor, von der Naivität der Auswanderer ohne große Bildung, von Frömmigkeit und Rechtschaffenheit, von Bibelzitaten und Erinnerungen an die zurückgelassene Heimat (Was heißt: Den Roman muss man nicht unbedingt gelesen haben).
Aber diesen Abschnitt schon, es lohnt sich.
Jürnjakob Swehn und seine Frau Wieschen sitzen am Sterbebett seiner Mutter auf einer bescheidenen Farm in Iowa. Die kurzen plattdeutschen Passagen der wörtlichen Rede erschließen sich beim Lesen, mit der Anrede „Lieber Freund“ ist der ehemalige Leser, der Empfänger der Briefe gemeint.

Foto: L. Prauser, aufgenommen in einem Bauernhausmuseum

Als aber der Tag zu Ende war, da kam ein anderer, und das war der letzte. Das war ein Sonnabend. Ihr Essen und Trinken, das war nicht mehr, als wenn ein kleiner Vogel essen und trinken tut. Als die Arbeit fertig war und es schon schummerte, da saß ich wieder an ihrem Bett und hielt ihre Hand, und der Puls ging sehr schnell. Lange Zeit saßen wir da im Schummern. Es war ganz feierlich wie in der Kirche, wenn vorn auf dem Altar die beiden Lichter brennen, weil Abendmahl ist. Ja, daran dachte ich, als ich in ihre Augen sah. Es waren sonst ganz gewöhnliche blaue Augen; aber an dem Tage ging ein Schein von ihnen aus, den sah ich sonst nicht in dieser Welt. Aber nun sah ich ihn mit meiner Seele.
Wieschen machte Licht und gab ihr mit freundlichen Wörtern was zu trinken, denn die Lippen waren trocken. So, Jürnjakob, sagte sie dann, nun lies mir was aus der Bibel vor…

Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie: Nimm das Gesangbuch und lies: Christus, der ist mein Leben. So las ich den Gesang, und sie hatte die Hände gefolgt und leise mitgesprochen, und als ich zu Ende war, da sagte sie: Das hat unser Lehrer auch mit den Schülern gesungen, als Jürnjochen gestorben war. Und nun lies noch: Wenn ich einmal soll scheiden. So las ich die beiden Verse.
Dann gab Wieschen ihr wieder zu trinken, und sie nickte ihr zu und drückte ihr die Hand, und einen Cake hat sie auch noch gegessen, und als ich sie nötigte, noch einen halben…

Dann rakte sie wieder leise über die Decke, und ihre Seele war sehr müde. Ich aber überdachte ihr Leben, als es zu Ende ging, und fand nichts als Mühe und Not. Dann folgte sie die Hände wieder und sah mich still und fest an, und ihre Augen waren groß und tief. Da war schon etwas drin, was sonst nicht drin war. Das kann ich nicht mit Wörtern beschreiben. Da konnte man hineingehen wie in einen tiefen See. Ich legte meine Hand ganz sacht wieder auf ihre Hände, und wir warteten. Aber nicht mehr lange. Dann sagte sie noch mal was. Sie sagte: Ick wull, dat ick in’n Himmel wer; mi ward die Tied all lang. – Lieber Freund, das behalte ich mein Leben lang bis an meinen Tod. Das könnte, so wie es ist, ganz gut im Gesangbuch stehen. Dann aber folgte sie die Hände wieder unter meiner Hand. So betete sie ganz leise unser altes Kindergebet: Hilf, Gott, allzeit, mach mich bereit zur ew’gen Freud und Seligkeit. Amen.
Als sie das Amen gesagt hatte, da drehte sie den Kopf so’n bißchen nach links rum, als wenn da wer kommen tat. Und da ist auch einer gekommen; den habe ich nicht mit meinen Augen gesehen und nicht mit meinen Ohren gehört. Der hat sie bei der Hand genommen, und da ist ihre Seele ganz leise mitgegangen, richtig so, als wenn man aus einer Stube in die andre geht. So ist sie nach Hause gegangen, als wenn ein müdes Kind abends nach Hause geht. Und nun ist sie nicht mehr in einem fremden Lande.
Ich hatte das Fenster geöffnet, daß ihre Seele hinaus konnte. Es war dunkle Nacht, und durch die Bäume ging ein harter Wind. Die Lampe wollte ausgehen. Sie hatte lange gebrannt.

Zitiert nach Johannes Gillhoff: Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer. Auf Projekt Gutenberg.de.
Projekt Gutenberg-DE®, Hille & Partner. Dort ist auch der vollständige Text und auch der ganze Roman nachlesbar.

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