29.11. Christine Kempkes: Andere Länder, andere Sitten – wie leicht darf Gedenken sein?

Kaukasus Collage

Kaukasus Collage von Christine

Angeregt durch Petra’s November-Newsletter „Leicht über’s Sterben reden“ und ein inspirierendes Gespräch mit ihr per Email freue ich mich, bei dieser Blog-Aktion dabei zu sein.

Nicht erst im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters in diesem Jahr habe ich hierzulande häufig erlebt, wie schwer wir uns tun, den Tod ins Leben zu lassen. Geschweige denn, ihm eine gewisse Leichtigkeit abzugewinnen. In den letzten Monaten habe ich oft darüber nachgedacht, woran dieses „Totschweigen“ des Themas (Was für ein Wortspiel!) wohl liegen mag. Meine Antwort: uns fehlen „leichte“ Rituale!

In anderen Ländern sieht das anders aus – wie wir in diesem Blog schon an anderer Stelle lesen konnten. Und so möchte ich heute erzählen, was ich auf meinen Reisen nach Armenien und Georgien erleben durfte. Hin und wieder begleite ich meinen Mann im Rahmen eines caritativen Projektes auf seinen Reisen in den Kaukasus. Über die Jahre sind dort Freundschaften gewachsen mit Menschen, deren Gastfreundschaft immer wieder überwältigend für mich ist.

In Armenien und Georgien trifft man sich bei Tisch nicht nur, um zu essen und zu trinken – das Mahl ist kein Selbstzweck. Menschen treffen sich, um Freundschaft und Beziehung zu pflegen und dabei ist ihnen ein jahrhundertealtes Ritual behilflich: die Supra (so nennt es sich in Georgien).

Trifft man sich in privatem Rahmen, so bereiten die Frauen der (Groß-)familie tagelang eine Vielzahl an Speisen zu. Nicht selten habe ich erlebt, dass der Tisch in zwei Etagen gedeckt ist! Das sind aber zunächst nur die Vorspeisen, erst später werden die Hauptspeisen gedeckt und schließlich gibt es noch einen süßen Abschluss. Dazu stehen jede Menge Getränke auf dem Tisch, in Georgien vor allem Wein, und auch Vodka darf nicht fehlen.

Das für uns Mitteleuropäer ganz Besondere: es gibt einen Tischführer, den sog. Tamada. Er ist die wichtigste Person am Tisch und der Dirigent der Trinksprüche. Wein bzw. Vodka werden nämlich nur zu den Trinksprüchen getrunken, ein Nippen am Glas zwischendurch verbietet sich. Die Themen der Trinksprüche folgen einem festen Ritual: man trinkt auf Gott und seinen Sohn, auf den Gastgeber und die Gäste, auf die Abwesenden und auf die Verstorbenen, später auch auf die Liebe und die Frauen, auf die Kinder und die Alten.

Bei besonderen Runden besagt die Tradition, das Glas komplett zu leeren, d.h. der letzte Tropfen wird auf dem eigenen Kopf ausgegossen. Hierzu zählen die Trinksprüche auf die Verstorbenen, die Kinder, die Eltern und die Frauen (wobei hier nur die Männer das Glas erheben!).

Häufig habe ich bei dieser Gelegenheit etwas über diese Menschen erfahren. Es werden Anekdoten über die Verstorbenen erzählt, es wird gelacht und manchmal auch geweint. Das gehört dazu. Es ist nicht in die Tabuzone verbannt.

Mindestens genauso sympathisch ist mir das ungeschriebene Gesetz, wonach es sich verbietet, die eigene Trunkenheit zu zeigen. Tatsächlich fühlen sich diese großen Gastmahle nicht wie ein Saufgelage an; ich habe es noch nie erlebt, dass jemand ausfallend oder anzüglich geworden ist. Diese Abende sind einfach nur wunderbar gepflegte Freundschaft und gelebtes Gedenken für die Menschen, die einem nahestehen. Ob im hiesigen oder im jenseitigen Leben.

Da ich selbst nicht besonders trinkfest bin, überlebe ich diese Abende übrigens nur, weil ich an meinem Platz eine Flasche Wasser stehen habe und mein Vodkaglas häufig damit auffülle. Leere Gläser sind nämlich streng verboten und ehe man sich versieht, ist das Glas wieder gefüllt …!

Übrigens geht es auch auf den Friedhöfen mitunter leichter, ungezwungener als bei uns zu. Die Grabsteine haben ein Bild des Verstorbenen, häufig eins aus Jugendtagen, eingraviert. Einmal im Jahr, am sog. Elterntag, trifft sich die Familie zu einem Picknick auf dem Friedhof. Hierzu gibt es dort sogar Unterstände mit Sitzgelegenheiten. Ein Mahl mit dem Verstorbenen quasi am Tisch – wunderbar, oder?

Nun kennen wir hierzulande leider solche leichten Rituale im Zusammenhang mit dem Tod nicht. Aber was spricht dagegen, eigene Gewohnheiten zu schaffen? Zum Beispiel der Verstorbenen zu gedenken, wenn man auf ein neues Lebensjahr anstößt. Oder die Geschichte mit dem Picknick auf dem Friedhof. Ich denke darüber für unser nächstes Familientreffen einmal nach …

Danke, liebe Christine, dass Du uns dieses besondere Fest näher gebracht hast. Ein Prosit auf die Toten mit Mineralwasser (mit Wodka würd ich sterben ;-)!

Hier entlang zu allen Informationen der November-Blogaktion.

8 Gedanken zu „29.11. Christine Kempkes: Andere Länder, andere Sitten – wie leicht darf Gedenken sein?

  1. Danke für diesen anderen Blickwinkel.

    Seit nunmehr 4 Jahren besuchen wir (die zusammengekommene Großfamilie) am Abend des 1. Weihnachtstages das Grab meines verstorbenen Mannes. Dort wird dann erzählt, was so alles los war, was es zu Essen gab, welche Geschenke. Dann stoßen wir mit ihm an und trinken ein Schnäpschen auf das Wohl aller. Anschließend singen wir auf dem Friedhof Weihnachts- und Lieblingslieder an den Gräbern unserer Verstorbenen. Ja, und das schenkt uns viel Freude, gutes Erinnern und manchen komischen Blick.

    Adventliche Grüße
    Elvira

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  2. Der Beitrag öffnet die Tür zu einem beeindruckenden Brauchtum (da steckt doch das Wort „brauchen“ drin). Ja, wir brauchen das. Andere Brauchtümer initiieren Nachdenklichkeit und dann öffnen sich wiederum Türen….

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