Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. (Psalm 90)
Da liegt sie die Broschüre von EXIT – der Vereinigung für humanes Sterben. Wir leben in der Schweiz. Wir können Mitglied werden, eine Patientenverfügung ausfüllen und einen jährlichen Mitgliedsbeitrag von 45 CHF bezahlen. Wir können auch die „Lebzeitsumme“ bezahlen in Höhe von einmalig 900 CHF.
Gut haben wir es, oder?
Alle Schweizer und alle Ausländer, die in der Schweiz leben, können Mitglied werden. Wenn ich mal wieder nach Deutschland ziehen sollte, brauche ich im Ernstfall nur in die Schweiz fahren und „ex und hopp“. Ist ein bisschen einfacher als das, was gerade im Bundestag entschieden wurde: Die geschäftsmäßige Sterbehilfe ist zukünftig verboten.
Alles gut für mich?
Spätestens seit Jojo Moyes Bestsellererfolg mit „Ein ganzes halbes Jahr“ wissen wir wie der assistierte Freitod realisierbar ist. Wil hatte einen schweren Unfall, ist querschnittsgelähmt und will nicht mehr Leben. Lou setzte alles daran sein Leben zu verschönern. Wil aber blieb bei seinem letzten Willen. Er reiste in die Schweiz, begleitet von seiner Familie und nahm Abschied von seinem Leben – assistiert.
Kennen Sie jemanden, der Sterbehilfe bei Exit oder Dignitas in Anspruch genommen hat? In der Schweiz oder in Holland?
Ich weiß von einem Vater hier in der Nachbarschaft, der immer sehr sportlich und agil war. Er litt unter seiner Depression und wollte nicht mehr leben. Plus/minus 80 Jahre war er. Ein gutes Alter um sich vom Leben zu verabschieden? Er starb im Kreis seiner Familie mit der Unterstützung von Exit.
Meine Beweggründe für ein Sterben mit Exit
Manchmal hab ich Panik. Panik davor, dass ich einmal alleine sterben werde, weil alle vor mir gestorben sind und meine „jungen Kinder“ keine Zeit für ihre Tante haben. Außerdem habe ich Angst in irgendein Pflegeheim abgeschoben zu werden, weil ich mich vielleicht irgendwann nicht mehr artikulieren oder bewegen kann. Weil mein Geld nicht reicht?
Panik kann man nicht wegrationalisieren. Vom Kopf her weiß ich, da ist meine Familie, da sind meine Freundinnen … ABER ?!
Ich kann mir vorstellen, dass irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, wenn ich alt bin und auf mein Leben zurück schaue, dass ich zufrieden sein werde. Dann ist es gut. Dann will ich vielleicht gehen.
Ja, warum dann nicht mit Exit sterben, wenn ich leide oder wenn es GUT ist oder ich mich allein und einsam fühle, ich nicht mehr mag, ich vielleicht in ein Pflegeheim abgeschoben werde?
Die Voraussetzung: Ich muss bei vollem Bewusstsein sein. Ich muss die Fähigkeit besitzen die Spritze, die mein Leben beendet, selbst bedienen zu können.
Wenn ich mir diesen Weg wünsche, wird es meine Erlösung sein. Und wir kennen alle die Geschichten, in denen Exit die „letzte Rettung“ ist und vor Leiden oder Siechtum bewahrt.
Was ich befürchte und was gegen EXIT spricht
Das Leben wird unwiderruflich vorbei sein, wenn ich diesen Weg gehe. Ich werde Gespräche geführt und meinen Willen für diesen Weg bekundet und bekräftigt haben. Ein Arzt wird bestätigen müssen, dass ich zurechnungsfähig bin. Und dann kann es los gehen. Meine Familie werde ich eingeweiht haben, wahrscheinlich meine Geschwister. Annegret.
Da stolpert eine Sekunde lang mein Herz, muss ich schlucken, da wird es mir im Hals eng.
So von jetzt auf gleich. So von einer Sekunde auf die andere werde ich einschlafen. Bin ich tot.
Ex und hopp!
Wenn ich mich für EXIT entscheide, bringe ich mich selbst um die Erfahrung meines eigenen Sterbens, finde ich. Ich werde einschlafen und nicht mehr aufwachen.
Man kann den assistierten Tod mit einem Kaiserschnitt vergleichen. Nach wenigen Minuten ist das Kind da ohne Wehen ohne Komplikationen. Die Geburt ist „erledigt“. Manchmal hat man sich auch etwas erspart: die stundenlangen Wehen, das Warten, die „echte Erfahrung“ der Geburt.
Ersparen?
Je mehr ich mich mit dem Sterben befasse, wird klar: ein einfacher Weg hinüber in die andere Welt ist es nicht. Außer man stirbt schnell wegen eines Unfalls oder eines Herzinfarkts. Wenn man im Sterben liegt, dann dauert es. Bei dem einen länger, bei der anderen kürzer. Da beschäftigt man sich noch einmal (un)bewusst mit seinem Leben, lässt los und dann doch wieder nicht, will noch leben und dann wird man immer ruhiger … stirbt.
Geht es auch anders? Ja, langsamer.
Ja, geht es. Hab ich gelesen … in einem Buch von Sabine Brönnimann und in der aktuellen Quartalsbroschüre von Andere Zeiten: „Der erwünschte Tod“ auf Seite 20.
Man kann entscheiden nicht mehr zu essen und zu trinken. Man kann liebevoll begleitet werden und schmerzfrei wird es auch machbar sein – davon gehe ich jetzt mal aus. Stichwort „Palliative Care“.
In der Broschüre wird von einem alten Bauern erzählt, der bewusst auf diese Weise stirbt und von seiner Tochter liebevoll begleitet wird. Sie leistet Sterbehilfe. Ich zitiere: „ich habe mein Brot gegessen, jetzt ist es genug“, sagt er. Sein Vertrauen und seine Würde … und hat an seiner Entscheidung nicht gezweifelt. Er ist souverän und würdevoll im Prozess seines Sterbens geblieben. Er hat sich nicht einfach dahinraffen lassen“.
Das gefällt mir, wenn ich das lese: Ich behalte meine Würde. Ich vertraue darin, dass dies der richtige Weg, mein Weg ist. Ich bleibe souverän und authentisch. Ich verzichte darauf zu essen und zu trinken.
Wenn ich Zeit und Gelegenheit habe, mich auf meinem Sterbebett von den anderen in meinem Tempo zu verabschieden, mich in meinem Atemrhythmus von meinem gelebten Leben zu verabschieden, dann stelle ich mir vor, wie reich und zufrieden ich sterben werde. Wie dieser alte Bauer.
Für mich ist dies ein möglicher Weg. Ich entscheide mit klarem Kopf und mit Zufriedenheit, dass es jetzt genug ist. Es ist ein langsamer Weg in das Hinüber und nicht „ex und hopp“.
Amen.
Auf dass ich klug werde ;-).
Lest Annegrets Artikel „Die 4 Phasen von „Ich regel jetzt mal alle letzten Dinge“
Noch ein Gedanke: in der Zeit, als medizinisch noch nicht alles möglich war, war es normal, dass man sich zum Sterben hinlegte. Also haben die Leute aufgehört zu Essen und zu Trinken. Auch heute kneifen Alte den Mund zu. Eine Entscheidung, die schwierig durchzusetzen ist. Ich sag nur: macht eine ordentliche Patientenverfügung, mit der eure Bevollmächtigen arbeiten können! Gerade gestern erzählte mir eine Fraus, dass sie den Ärzten ihrer Schwiegermutter täglich die Patientenverfügung vor die Nase hielt, damit die nicht irgendwelche Sonden legten…
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Mensch, Petra,
Da hab ich zwischendurch schlucken müssen! Froh über deinen Schluss! Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die so Wahnsinnige Schmerzen haben, dass sie einen „Exit“ wählen. Wenn Palliativ Medien hier nicht weiter kommt, könnte ich die Entscheidung verstehen und sogar mittragen.
Aber bei Depressionen, oder weil man keine Angehörigen hat, oder weil man niemanden „zur Last“ fallen will, dann ist das aus meiner Sicht keine Alternative.
Mit unserem Blog und den vielen Gesprächen die wir führen, tragen wir zu einer besseren Kultur des Sterbens bei. Da muss unsere Energie hingehen, nicht in die Auswege.
Kuss von Unterwegs Annegret
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Liebe Petra, was für ein wunderbarer Artikel! Ich danke Dir von Herzen dafür. Mein Vater wurde in seinen letzten Lebenstagen auch von einem ambulanten Palliativdienst umsorgt. Diese Menschen sind Engel auf zwei Beinen! Sie haben sich nicht nur liebevoll um ihn, sondern auch intensiv um meine Mutter gekümmert. Wenn man im Zusammenhang mit dem Tod von „schön“ sprechen kann, dann war das ein schönes Sterben: zu Hause im Beisein der Angehörigen, schmerzfrei , friedlich und wie Du es so treffend beschreibst, im eigenen Tempo. So konnten schließlich auch alle loslassen. Liebe Grüße, Christine
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Hallo liebe Christine, im Laufe der nächsten Tage werden wir noch einmal mehr hören zum „schönen Tod“. So wie Du ihn beschreibst heißt es: schmerzfrei, friedlich mit den nahen Liebsten und im eigenen Tempo. Da bin ich ganz bei Dir. Schön, dass Du den Tod Deines Vaters so erleben durftest.
Hab einen schönen Abend. Herzlich. Petra
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Der Vater eines Freundes, übrigens der beste Freund meines Mannes, hat sich bewusst dafür entschieden nicht mehr zu essen und nur noch Orangensaft zu trinken.
Der Sterbeprozess zogt sich sehr lange hin, fast ein halbes Jahr. Mein Freund hat seinen Vater gepflegt, ihn gewickelt, lange Gespräche mit ihm geführt und nachts an seinem Bett gesessen. Zum Glück gab es eine gute Paliativmedizin, der alte Mann hatte keine körperlichen Schmerzen. Trotzdem war es eine harte Zeit. Mein Freund brauchte uns andere Freunde, um nicht vor die Hunde zu gehen. Einen Menschen bewusst verhungern zu lassen ist verdammt schwer.
Schlussendlich war es aber die richtige Entscheidung, sowohl für Vater, als auch für den Sohn. Es hat die Beiden, am Ende des Lebens, näher gebracht.
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Liebe Petra, so lange? Ein halbes Jahr hat es sich hingezogen. Das ist sehr lang, finde ich. Aber Du schreibst, es hat Vater und Sohn näher gebracht. Ja, das muss man aushalten könnten, das ein Menschen verhungern und verdursten will. Dass dies für Euren Freund eine harte Zeit war, kann ich gut verstehen.
Es braucht auf jeden Fall einen Sterbehelfer und Palliativmedizin. Die müssen dann auch erstmal gefunden werden: ein Mensch der sich einlässt und begleitet.
Danke dass Du Deine Erfahrung mit uns teilst.
LG
Petra
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Mein Freund hatte nachdem sein Vater ein Jahr tot war, einen heftigen Nervenzusammenbruch. Er hat zum Glück eine wunderbare Frau an seiner Seite.
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