Von Plastinaten und Bauernschädeln

Immer wenn der Mediziner und Anatom Gunther von Hagens eine seiner Körperwelten Ausstellungen ankündigt, in denen er plastinierte menschliche Körper zeigt, ist es nicht weit hin bis zur Entrüstung und Empörung. Seit den 90er Jahren wird darüber immer wieder diskutiert, ob die Ausstellung plastinierter Toter einen Akt künstlerischer Freiheit darstellt oder ob dies mit der Menschenwürde oder gar der Störung der Totenruhe unvereinbar sei.
Entsprechend oft wurden Gerichte bemüht, die das juristisch zu klären hatten, wobei die öffentliche Debatte weitaus weniger von juristischen Fragen als von moralischen geprägt war. Angefangen von der Herkunft der Leichen bis zur öffentlichen Zuschaustellung, was bei nicht wenigen Menschen erhebliches Unbehagen auslöst. Denen aber darf man durchaus die Freiheit einräumen, solche Ausstellungen gar nicht erst zu besuchen und sich nicht weiter damit auseinanderzusetzen. Das sollte eigentlich reichen.
Aber wie das mit Entrüstung und Empörung nun mal ist – die betreffenden Personen meinen ja oft, gleich für alle anderen mitbestimmen zu müssen, was gut und richtig ist. Und was eben nicht.
Dass nicht selten die eigentliche Triebfeder dieser Empörungen eine ganz andere ist, hat der Philosoph Philipp Hübl in seinem gleichnamigen Buch Moralspektakel ganz wunderbar beschrieben: Es geht vielleicht gar nicht so sehr um den konkreten Fall. Es geht in erster Linie darum, eine Bühne gefunden zu haben, um sich als ein moralischer (besserer) Mensch zu präsentieren. Warum sollte sonst einer juristisch versuchen, eine solche Ausstellung zu verhindern?
Davon vollkommen ungeachtet liegen überall Tote bzw. deren Überreste herum und werden öffentlich zur Schau gestellt, sogar angebetet, aber das ist natürlich etwas anderes. Das dienst ja nicht dem Voyeurismus sondern der religiösen Kontemplation.
Gemeint sind die Gerippe der Heiligen in den gläsernen Schreinen in dutzenden katholischer Kirchen.

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100 Songs: Nick Cave & Kylie Minogue – Where the wild roses grow (1996)

Es ist ’ne Weile her, dass ich in der Kategorie 100 Songs einen solchen über Sterben und Tod vorgestellt habe. Zeit wird’s also, das Augenmerk auch mal wieder auf die Musik zu richten.
Einer, der ein ganzes Album zum Thema veröffentlicht hat, ist der australische Musiker Nick Cave, der zusammen mit seiner Band Nick Cave and the Bad Seeds 1996 die Murder Ballads auf den Markt brachte, unschwer ist zu erraten, um was es in den Songs auf diesem Album geht. Damit, also mit Mord, passt es thematisch nicht ganz in meine Reihe, aber trotzdem:

Besonders populär und ein weltweiter Hit wurde das Duett von Nick Cave und Kylie Minogue Where the wild roses grow. Es nimmt nicht nur musikalisch eine Sonderstellung ein, denn das war ein für Cave eher untypischer Song, der aber so erfolgreich wurde, dass das Album, das ansonsten musikalisch in eine ganz andere Richtung geht, das erfolgreichste in der Geschichte der Band wurde. Düster zwar, grüblerisch und eindringlich, aber auf seine Art auch sehr einfühlsam, fast scheint es, es sei die Figur des Täters in seiner Zwanghaftigkeit, das Schöne zerstören zu müssen, genauso zerbrechlich wie sein Opfer.

Cave erzählte später in einem Interview, dass er eine heimliche Besessenheit auf Kylie Minogue hatte und schon beim Schreiben sich niemand anderes vorstellen konnte, als sie, mit der er den Song aufnehmen wollte. Es war nicht der erste Song, den er für sie (und sich) schrieb, aber der erste, den er ihr zukommen ließ. Sie sagte (keine Überraschung) zu.

Inspiriert ist Where the wild roses crow von der Mord-Ballade Down in the willow garden, das eine sehr ähnliche Geschichte erzählt.
Die Wurzeln dieses Songs liegen im Irischen in Liedern und Balladen, damit erübrigt es sich, auf die Suche nach einem konkreten Fall zu gehen, den Cave in diesem Song vielleicht aufgegriffen hat. Anders aber als in Down in the willow garden wechselt in Where the wild roses grow die Erzählperspektive hin und her und verbleibt nicht beim Mörder und seinem Geständnis.
Cave übernimmt dabei die Rolle des Täters, Minogue die des Opfers.

Ein höchst artifizielles Musikvideo entstand, das nicht nur die Geschichte des Songs bebildert sondern auch gespickt ist mit Andeutungen und Anspielungen. Überwiegend iin weichgezeichneten Brauntönen ist es gehalten und zeigt Elisa Day (Kylie Minogue) tot im Wasser liegend, ikonisch sehr an die Sümpfe der amerikanischen Südstaaten erinnernd und einen zutiefst verstörten Täter am Ufer. Eine Schlange windet sich über die Tote, ein Hase schnuppert an ihr, er legt ihr eine Rose zwischen die Lippen und schließt ihre Augenlider. Welch Bilder!

Das Motiv erinnert dabei nicht ohne Absicht an Sir John Everett Millais‘ Gemälde Ophelia, das 1851/52 entstand: Der (Opfer)tod der ganz und gar Unschuldigen.

Hier der Text:

They call me the Wild Rose
But my name was Elisa Day
Why they call me that I do not know
For my name was Elisa Day

From the first day I saw her
I knew she was the one
She stared at my eyes and smiled
For her lips were the colour of the roses
That grew down the river
All bloody and wild

When he knocked on my door and entered the room
My trembling subsided in his sure embrace
He would be my first man, and with a careful hand
He wiped at the tears that ran down my face

They call me the Wild Rose
But my name was Elisa Day
Why they call me that I do not know
For my name was Elisa Day

On the second day I brought her a flower
She was more beautiful than any woman I′ve seen
I said, „Do you know where the wild roses grow
So sweet and scarlet and free?“

On the second day he came with a single red rose
He said: „Give me your loss and your sorrow!“
I nodded my head
As I lay on the bed
„If I show you the roses will you follow?“

They call me the Wild Rose
But my name was Elisa Day
Why they call me that I do not know
For my name was Elisa Day

On the third day he took me to the river
He showed me the roses, and we kissed
And the last thing I heard was a muttered word
As he knelt above me with a rock in his fist

On the last day I took her where the wild roses grow
She lay on the bank, the wind light as a thief
As I kissed her goodbye, said „All beauty must die“
And lent down and planted a rose between her teeth

They call me the Wild Rose
But my name was Elisa Day
Why they call me that I do not know
For my name was Elisa Day

Unsterblich

Das ich ein Mann bin, kommt nicht häufig vor. Ich war Juan, Jiroemon, Emiliano, Christian und ganz oft eine Frau. Ich weiß nicht nur, wie es sich anfühlt das eine oder andere zu sein, sondern auch wie es ist, ein Supercentenarian zu werden, auch wenn ich dieses Wort jedes Mal wieder zum ersten Mal höre und es mir auch meist nicht für die nächsten zehn bis dreizehn Jahre merken kann. Auch nicht, dass nur ein Promille derer, die älter als einhundert Jahre alt werden, auch älter als einhundertzehn Jahre alt und damit Supercentenarian werden.

Damit ich nicht vergesse, dass es mich überhaupt gibt, bekomme ich eine Urkunde, die das bestätigt, sobald ich es bin. Manchmal kann ich sie nur für einige wenige Tage aufhängen. Doch ich bekomme netten Besuch, der die Urkunde und eine Menge Fotografen mitbringt und mich nach meinem Geheimnis fragt. Dann sage ich jedes Mal etwas anderes und jedes Mal wird daraus eine große Geschichte gemacht. Niemand stellt in Frage, dass meine Aussagen falsch sein könnten, auch wenn sie inkonsistent sind. Ich bin ja der lebende Beweis, immer die Person mit der meisten Lebenserfahrung – und unsterblich.

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Der alte Friedhof von Ramsau

Die Kirche St. Sebastian von 1512 in Ramsau im Berchtesgadener Land gehört ganz sicher zu den meist fotografierten Sakralbauten Bayerns. Das ist allerdings weniger ihrer und kunsthistorischen Bedeutung geschuldet, ihre beeindruckenden Architektur oder dem Umstand, dass sie einen ganz besonders relevanten historischen Hintergrund aufweisen kann: Kein Wallfahrtsort, kein Gedenkort, kein Heiliger, dessen Gebeine hier angebetet werden.
Es ist eine ganz einfache Pfarrkirche in Oberbayern: Eher klein, hell getüncht, mit Zwiebelturm, innen sogar relativ bescheiden ausgestattet, zumindest im Vergleich zu anderen Kirchen mit barocker Ausstattung.

Trotzdem. Ihre Prominenz verdankt sie ihrer ungemein pittoresken Lage inmitten des kleinen Ortes Ramsau im Berchtesgadener Land. Die Ramsauer Ache fließt durchs Dorf, von Dutzenden alter Holzbrücken ist sie überspannt, das Bergpanorama ist beeindruckend.

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Steine der Hoffnung

Steine liegen vor mir. Ich lege einen dazu. Für die einen sind diese Steine Zeichen der Erinnerung, für mich sind sie ein wenig mehr. Es sind auch Steine der Hoffnung.
Doch von Anfang an.

Zu Füßen des Pulverturms der Burghauser Burganlage liegt ein kleiner Friedhof. Ich bin nach Burghausen gefahren, um mir im dortigen Haus der Fotografie die Ausstellung Bittersweet des Münchner Fotografen Christopher Thomas anzusehen. Ich erwarte wunderbare Bilder (werde auch nicht enttäuscht) und möchte den kühlen, wolkenverhangen Tag auch noch für die eine oder andere Erkundung der Stadt nutzen.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Pulverturm und weiter zum Wöhrsee passiere ich diesen kleinen Friedhof der südlich einer mit Löwenzahn und Hahnenfuß bewachsenen Wiese auf der Hochebene über dem Wöhrsee liegt.

In meinem Blog habe ich über diesen einerseits so unscheinbaren, andererseits so besonderen Friedhof einen Beitrag geschrieben. Um simultane Doppelveröffentlichungen zu vermeiden, verlinke ich ihn hier.

Zum Lesen bitte hier klicken.

Natur, Kunst und Achtsamkeit

Lucia Pec ist Landartkünstlerin und wir sind über Instagram befreundet. Dort heißt sie @my.creative.nature. Sie hat ein Kartenset gestaltet, jede Karte trägt ein wundervoll gestaltetes Naturkunstwerk als Motiv, dazu einige spirituelle Worte.

Sie hat mir eines dieser Sets geschenkt und ich stelle es euch hier vor. Ich selbst bin eher wenig spirituell, meine naturwissenschaftliche Seite ist stärker. Auf dem Friedhof ist es anders, die Atmosphäre dort macht empfänglicher für alles, was zwischen Himmel und Erde passiert.

Ich habe mir Karten ausgewählt, die mich spontan besonders angesprochen haben und mir passende Orte dazu gesucht und einige wunderschöne Stunden verbracht.

Zu den Karten gibt es ein Begleitheft, in dem Lucia ihre Gedanken zu jeder Karte aufgeschrieben hat, dazu gibt es achtsame und auch kreative Übungen, um sich dem Thema noch mehr zu nähern.

Lucia Pec: Lebe deine wahre Natur, 22,30 €, Allegria-Verlag

Sterben – der Kinofilm von Matthias Glasner

The name of the piece ist Sterben“, insistiert Bernard, der Komponist, während einer der Orchesterproben in diesem Kinofilm. Er ist bis zum Schluss mit seinem Werk unzufrieden. „Es ist noch nicht fertig“ sagt er zu Tom (Lars Eidinger), Dirigent des Werkes und sein bester Freund. Er arbeitet immer wieder verzweifelt an seinem Konzertstück weiter.

3 Stunden dauert der am 25. April angelaufene Kinofilm von Matthias Glasner. Die drei Kinostunden vergehen übrigens relativ kurzweilig. Lars Eidinger spielt in der Hauptrolle Tom. Tom ist nicht nur Dirigent und sondern auch Freund, Sohn, Liebhaber, Bruder, Vater. Der Film wird in Kapiteln gezeigt, in dem eine Person des Films hervorgehoben wird. Dann sehen wir in Rückblenden eine schon gezeigte Szene aus der Sicht des anderen Menschen.

Mir hat der Film sehr gefallen und ich empfehle ihn euch anzuschauen. Im Gespräch nach dem Film erzählte uns Matthias Glasner im Kino, dass er das Alltägliche in seinem Film zeigen will. Der Film hat keine Intention und er will auch nicht belehren. Schön wäre, sagte er, wenn uns die Figuren berühren und wir weiter an sie denken. Es soll ein Film sein, der uns „das Leben (und Sterben)“ zeigt und vielleicht sogar lange begleitet. Seine Frau hat ihn übrigens zu einem „guten Schluss“ unterstützt, so dass er ihn auf 3 Stunden (von vorher sechs, dann 3,5 Stunden) kürzen konnte.

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